# taz.de -- Allein gelassen bei Spätabtreibung: Und dann war Lea weg | |
> Der Bundestag diskutiert über das ob und wie einer Beratungspflicht bei | |
> Spätabtreibungen. Dass in unserer Gesellschaft ein behindertes Kind als | |
> Schaden angesehen wird, ist kein Thema. | |
Bild: Und immer schwingt die Hoffnung mit, dass nichts "Auffälliges" gefunden … | |
Sie trank Rotwein. Ein Glas nach dem anderen. Sie war im fünften Monat | |
schwanger und trank und trank. Tagsüber fing sie an, abends waren mehrere | |
Flaschen leer. Es war eine Woche vor Weihnachten. Jutta Gelhaus* trank seit | |
dem Telefongespräch mit dem Gentestlabor: Trisomie 18. Edwards-Syndrom. | |
Die 36-jährige Leipzigerin hat gegoogelt, hat gelesen. Herzfehler, | |
Organfehler, vergrößertes Kleinhirn, Fehlbildungen der Extremitäten. Viele | |
Kinder sterben vor der Geburt, die meisten Überlebenden erreichen ihren | |
ersten Geburtstag nicht. Die Gynäkologin sagte, dass es die Möglichkeit der | |
Spätabtreibung gibt. "Aber das müssen Sie allein entscheiden." Seitdem | |
trank Jutta Gelhaus. "Wie ein Loch", sagt sie. | |
Allein entscheiden. Dass es Beratungsstellen gibt, die einen auf diesem Weg | |
begleiten, erwähnte die Frauenärztin erst, als Jutta Gelhaus sie fragte. | |
Das ist kein Einzelfall. Schwangere werden öfter nicht darauf vorbereitet, | |
dass die Ergebnisse der pränatalen Feindiagnostik ungeheuerliche Folgen für | |
sie haben können. In einer Studie im Auftrag der Bundeszentrale für | |
gesundheitliche Aufklärung gab 2006 die Hälfte der befragten Schwangeren | |
an, sie habe nach der pränatalen Diagnostik nichts von der Möglichkeit | |
einer psychosozialen Beratung und Begleitung erfahren. | |
Es ist diese Situation, die viele PolitikerInnen unerträglich finden. | |
Deshalb wird der Bundestag heute in erster Lesung über fünf verschiedene | |
Anträge zur Pflichtberatung bei Spätabtreibung debattieren. Betrachtet man | |
Jutta Gelhaus Entscheidung, dann sind die Differenzen zwischen diesen | |
Anträgen allerdings Nebenkriegsschauplätze. | |
Das Kind im Bauch von Jutta Gelhaus gewinnt plötzlich eine andere Realität. | |
Ihre Tochter wird sterben. Sie nennt sie Lea. Und sie entscheidet, dass sie | |
Lea beim Sterben helfen will. "Ich wollte auf dieses Sterben nicht passiv | |
warten. Ich war so ohnmächtig, ich wollte irgendetwas selbst tun können. | |
Ich wollte machen, dass sie einen guten Tod hat und keinen qualvollen." | |
Am 20. Dezember sitzt sie bei der Gynäkologin, die den Abbruch plant. Klar | |
ist, Jutta Gelhaus muss ihre kleine Tochter gebären. Für eine herkömmliche | |
Abtreibung ist sie zu groß. Lea wird zu schwach sein, um diese Geburt zu | |
überleben. "Ich war in einer Mühle. Und die Mühle mahlte einfach vor sich | |
hin", beschreibt Gelhaus ihr Gefühl. Sie selbst hat in dieser Mühle keinen | |
Platz. Sie will krankgeschrieben werden. "Das darf ich nicht wegen einer | |
Abtreibung, das ist verboten", meint die Gynäkologin. Man einigt sich auf | |
"psychische Überlastung". Die christlichen Krankenhäuser machen keine | |
Abtreibungen, da bleibt nicht viel übrig zum Aussuchen. Sie bekommt einen | |
Termin in vier Tagen. Weihnachten. Da wehrt sich Jutta Gelhaus. Die Mühle | |
quietscht. Nicht Weihnachten, sagt sie. Erst im neuen Jahr. | |
Es ist nicht immer so wie bei Jutta Gelhaus. Es gibt ganze Verbünde von | |
Praxen, Humangenetikern und Beratungsstellen, die zusammenarbeiten. In der | |
Praxis des Gynäkologen Matthias Albig etwa, einer der größten Praxen für | |
pränatale Feindiagnostik in Berlin, gibt es eine eindeutige Linie: "Wenn | |
ein Spätabbruch anstehen könnte, wird das mit allen acht Ärzten hier | |
besprochen. Dann werden Experten zurate gezogen. Und wir erklären, welche | |
psychosozialen Beratungsstellen sich mit diesem Problem auskennen. Dafür | |
gibt es selbstverständlich eine Bedenkzeit." | |
Jutta Gelhaus hat sich selbst Hilfe gesucht. Zufällig wurde es Donum Vitae, | |
die katholische Beratungsstelle. "Die Beraterin dort war wirklich ein | |
Geschenk. Sie war einfach bei mir und meinen Gefühlen", sagt sie. Doch an | |
Weihnachten hat Donum Vitae zu. | |
"Ich wollte mit Menschen darüber sprechen, dass meine kleine Lea sterben | |
muss. Aber ich dachte: Das kann ich denen an den Feiertagen doch nicht | |
zumuten!" Sie spricht mit ihrem Lebensgefährten. Er ist immer da. Er sagt: | |
Trink doch nicht so viel. Aber abends trinkt er dann einfach mit. Ein | |
schwangeres Paar an Weihnachten - sehr weit von der "hochheiligen" | |
Schwangerschaft entfernt, die da gefeiert wird. | |
"Die Gesellschaft hat mit der pränatalen Diagnostik ein Problem geschaffen, | |
das sie nicht bewältigen kann. Dann lädt sie dieses Problem der einzelnen | |
Frau im sechsten Monat auf", beschreibt Hildburg Wegener die Situation. Sie | |
ist evangelische Theologin und engagiert sich im Netzwerk gegen Selektion | |
durch Pränataldiagnostik. Das lässt vermuten, sie sei eine Gegnerin von | |
Jutta Gelhaus. Soll man doch der Natur ihren Lauf lassen, soll Gott | |
entscheiden, was er mit diesem Kind will? Aber so denkt Wegener nicht: "Ich | |
kann eine einzelne Frau verstehen, die sich die Sorge für ein behindertes | |
Kind nicht zutraut. Aber ich frage die Gesellschaft, warum sie meint, | |
behinderte Kinder grundsätzlich aussortieren zu müssen." | |
Ja, warum meint die Gesellschaft das? Viele Mütter haben nicht nur über den | |
Zeitpunkt des Todes ihres Kindes zu entscheiden wie Jutta Gelhaus. Sie | |
entscheiden, ob es leben darf oder nicht. Fast 90 Prozent aller Kinder mit | |
dem Downsyndrom werden abgetrieben, zeigt eine Studie von Irmgard Nippert, | |
Professorin für Frauengesundheitsforschung in Münster. Die medizinische | |
Indikation sagt: nicht zumutbar. | |
Was ist zumutbar? Die deutsche Gesellschaft antwortet darauf relativ | |
eindeutig. Ärzte, die Frauen nicht auf das Risiko des Downsyndroms | |
hinweisen, müssen Schadenersatz zahlen. In Nipperts Befragung von 1.000 | |
Schwangeren in den 90er-Jahren erklärten 86 Prozent, sie hielten es | |
persönlich für verantwortungslos, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen. | |
Denn Behinderte sind in dieser Welt nicht vorgesehen. Sie existieren nur | |
als Randgruppe. Gerade bei der Union, die so gerne möchte, dass behinderte | |
Kinder nicht abgetrieben werden. Die Union möchte die Behinderten weiter | |
separieren, in Sonderschulen, eigene Werkstätten, zu Hause. Das ist das | |
Gegenteil von "Inklusion", wie sie die UN-Konvention für die Rechte der | |
Behinderten fordert. | |
Was ist zumutbar? Christina Schneider ist eine der Beraterinnen bei Pro | |
Familia Berlin, die diese Frage mit den Paaren betrachtet und bewegt. "Wir | |
schauen uns erst einmal die Lage an. Gibt es weitere Kinder? Ist die Mutter | |
berufstätig? Gibt es einen verlässlichen Partner, Großeltern? Wie stehen | |
die Eltern zu dem Kind?" Langsam entsteht ein Bild von der Familie. Wie | |
sähe dieses Bild mit einem behinderten Kind aus? Wenn ein Fahrdienst käme, | |
eine Assistenz im Alltag hülfe, wenn man Pflegestufe xy beantragen würde? | |
"Aber manchmal sitzen da zwei Akademiker, die 50 Stunden arbeiten und | |
dauernd auf Dienstreise sind", erzählt Schneider. "Die lassen sich auf so | |
etwas nicht ein. Deren Entscheidung steht." Für andere ist die Beratung von | |
großem Nutzen. Schneider hat eine Frau begleitet, deren Kind ebenfalls | |
Trisomie 18 hatte. Sie hat Zeit und Ruhe gefunden, das Kind bis zu seinem | |
Tod auszutragen. "Es war ein gut gestalteter Abschied." | |
Einen gut gestalteten Abschied hat sich auch Jutta Gelhaus vorgestellt. Sie | |
hatte gelesen, dass man im Krankenhaus Anspruch auf eine Hebamme hat. Dass | |
man das Zimmer schön herrichten kann. Dass man sich auf schonende Weise von | |
der Plazenta trennt, die sich bei dieser frühzeitigen Geburt nicht von | |
allein löst. Dass man sich von seinem Kind in Ruhe verabschieden kann. Der | |
Abschied von Lea wurde ganz anders. | |
Keine Hebamme, kein schönes Zimmer, keine schonende Behandlung. "Ich war | |
bloß eine Nummer." Um acht ist sie bestellt, um eins bekommt sie | |
Medikamente, die die Geburt einleiten. Dann sind sie allein in einem | |
kleinen Zimmer. Der Mann, Jutta Gelhaus und ihr sterbendes Kind. Um zehn | |
Uhr abends setzen die Wehen ein. Niemand kommt, keine Hebamme, kein Arzt. | |
Eine Schwester bringt Schmerzmittel. Das ist alles. Um 2.15 Uhr wird die | |
tote Lea geboren. Sie wiegt 183 Gramm und ist knapp 20 cm groß. Die Mutter | |
will Lea in den Händen halten. Aber sie muss in den OP, die Nachgeburt soll | |
ausgeschabt werden. Das ist Krankenhausroutine. Der Termin, jetzt. | |
Vollnarkose. Als Gelhaus daraus erwacht, befindet eine Schwester, der Fötus | |
müsse nun in die Pathologie. Als Gelhaus protestieren will, muss sie sich | |
erbrechen. Und dann ist Lea weg. | |
Jetzt ist das Problem für die Medizin zu Ende. Aber für die verwaisten | |
Eltern fängt es erst an. "Ich habe weiter getrunken. Ich wusste nicht, wie | |
ich den Schmerz, die Leere und die Schuldgefühle betäuben soll." Nach einer | |
Abtreibung gibt es keinen Mutterschutz. Sie muss wieder arbeiten. Sie | |
findet den Verein Schmetterlingskinder, der sich darum kümmert, dass Kinder | |
unter 500 Gramm überhaupt begraben werden können. Und stößt im Internet | |
schließlich auf ein Forum: nachabtreibung.de. Da liegt ihr Schlüssel. Da | |
sind die anderen Mütter, die wie sie fast umkommen vor Schuld und Scham. | |
Die wie sie merken, dass keiner im Umfeld mit ihrer Trauer umgehen kann. | |
Wer abtreibt, der wollte es doch so. Warum sollte man da trauern? Sie kann | |
mit den Menschen im Forum trauern, kann auf den Friedhof gehen. Sie bekommt | |
sich selbst wieder unter Kontrolle, ist wieder arbeitsfähig. | |
Der Bundestag diskutiert, ob die Beratung für Menschen wie Jutta Gelhaus so | |
oder so aussehen soll. Er debattiert nicht, dass diese Gesellschaft | |
Behinderung als Schaden ansieht und Mütter von behinderten Kindern als | |
verantwortungslos. Und er debattiert auch nicht, wie Eltern sich in Würde | |
von Kindern wie Lea verabschieden können. | |
*Name von der Redaktion geändert | |
18 Dec 2008 | |
## AUTOREN | |
Heide Oestreich | |
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