# taz.de -- 68er Filmreihe in Berlin: Radikalisiertes Kino | |
> In einer spannenden Filmreihe des Berliner Arsenal-Kinos gebärdet sich | |
> das radikale Kino von 1968 überraschend widersprüchlich und undogmatisch. | |
Bild: Vietnamkrieg mit Modellflugzeug und Kunstblut: Szene aus Godards „La Ch… | |
Am 18. Mai 1968 trägt sich im südfranzösischen Cannes etwas heute | |
Unvorstellbares zu. Um elf Uhr in der Früh geben die Filmemacher François | |
Truffaut, Jean-Luc Godard, Claude Berri und Claude Lelouch eine | |
Pressekonferenz. Sie fordern, das seit acht Tagen währende Filmfestival | |
abzubrechen. Solange Arbeiter und Studenten in Paris und anderswo auf die | |
Barrikaden gehen, wollen sie sich den bourgeoisen Festspielritualen nicht | |
hingeben. Kein roter Teppich, keine Abendroben, keine Goldene Palme im | |
Angesicht der Streiks und Straßenkämpfe. Die drei Mitglieder der | |
offiziellen Jury, die zugegen sind – es sind Roman Polanski, Monica Vitti | |
und Louis Malle – geben ohne zu zögern ihren Rücktritt bekannt. Am Abend | |
fällt die Premiere von Carlos Sauras Wettbewerbsbeitrag „Peppermint Frappé�… | |
aus. Eine britische Journalistin beschreibt, wie die Vorführung behindert | |
wird: „Menschen springen vor der Leinwand auf und ab und hängen sich an den | |
Vorhang.“ Am Folgetag wird das Festival abgebrochen, niemand nimmt die | |
Goldene Palme entgegen. | |
Die Ereignisse in Cannes sind nicht die Einzigen, an denen sich zeigt, wie | |
sehr sich das Kino in Frankreich 1968 mit den politischen und sozialen | |
Protesten verwebt. Im Februar etwa versucht André Malraux, Minister für | |
kulturelle Angelegenheiten und ein persönlicher Vertrauter von Charles de | |
Gaulle, den Leiter der Cinémathèque Française, Henri Langlois, des Amtes zu | |
entheben. Langlois Anhänger protestieren dagegen mit Vehemenz; Truffaut | |
beschreibt das Verhältnis dieser Demonstrationen zu den Maiunruhen als das | |
eines Trailers zu dem bald anlaufenden Spielfilm. Malraux muss die | |
Amtsenthebung rückgängig machen, so wie er zuvor schon das Verbot von | |
Jacques Rivettes Film „La religieuse“ (1966) nach Protesten aufheben | |
musste. | |
Das Kino – das lässt sich dank einer morgen beginnenden, umfangreichen | |
Retrospektive im Berliner Arsenal-Kino nachvollziehen – hat sich zu diesem | |
Zeitpunkt schon radikalisiert. In „La Chinoise“ (1967) von Jean-Luc Godard | |
bewohnen fünf junge Menschen ein weitläufiges Appartment, in dem das Rot | |
der Mao-Bibel wesentlich zur Farb- und Raumgestaltung beiträgt. Sie | |
debattieren über Stalin, Mao, Marx und Lenin. In einer Sequenz filmt sich | |
der Kameramann Raoul Coutard im Spiegel; in einer anderen trägt der | |
Schauspieler Jean-Pierre Léaud seine Gedanken über das Schauspiel vor. Der | |
Film schaut sich beim Entstehen zu. In anderen Sequenzen wird der Krieg in | |
Vietnam nachgespielt, mit Modellflugzeugen, tomatenrotem Kunstblut und | |
improvisierten Kostümen. Eine Philosophie-Studentin, gespielt von Godards | |
Freundin Anne Wiazemsky, erklärt der Sorbonne als bourgeoiser | |
Bildungseinrichtung in harschen Worten den Krieg. Später wird dieselbe | |
Studentin – sie ist die glühendste Mao-Verehrerin von allen – ein Attentat | |
verüben. Weil sie die Zimmernummern verwechselt, bringt sie den Falschen | |
um. | |
Als er „La Chinoise“ dreht, ist Godard leidenschaftlicher Anhänger Maos und | |
voller Bewunderung für die chinesische Kulturrevolution. Umso | |
erstaunlicher, dass sein Film ihm darin nicht folgt. Wenn politische | |
Positionen verhandelt werden, schießen sie munter hin und her. Der | |
Radikalismus der Mao-Anhängerin wird in einer langen Dialogsequenz in Frage | |
gestellt, bis deutlich zutage tritt: Den Verhältnissen ist er nicht | |
angemessen. Die Gewalttat am Ende des Films ist pure Dummheit. | |
Der Regisseur von „La Chinoise“ ist dogmatisch, sein Film aber gebärdet | |
sich so eigensinnig und widerborstig, dass er jeden Dogmas spottet. „La | |
Chinoise“ produziert kein politisch verwertbares Surplus, ist Propaganda in | |
keinem Augenblick. Einmal läuft im Off die Internationale in einer | |
instrumentalen Version. Man sieht dazu ein studentisches Pärchen dösend auf | |
dem Bett und denkt sich den Text: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde.“ Die | |
beiden Studenten schlafen weiter. | |
Dies ist die erfrischendste Erkenntnis, die die Wiederbegegnung mit den | |
Filmen jener Zeit verschafft. Die Agitation mag der Kommunikationsmodus der | |
Zeit gewesen sein, die feste politische Überzeugung Grundlage für die | |
Wahrnehmung der Welt. Doch die Filme agieren ganz anders. Sie verwahren | |
sich gegen politische Vereinnahmung noch dort, wo sie ganz nah dran sind an | |
der unruhigen, ungemütlichen Wirklichkeit. Zum Beispiel „La reprise du | |
travail aux usines Wonder“ („Die Wiederaufnahme der Arbeit in den | |
Wonder-Werken“) von Jacques Willemont aus dem Jahr 1968. Der Streik ist | |
vorbei, die Arbeiter kehren zurück in die Fabrik, gefilmt wird im Gedränge | |
vorm Werkstor. Die Umstehenden debattieren. Wars ein Sieg? Nur eine Etappe | |
auf dem weiten Weg? Oder gar eine Niederlage? Die Sätze fliegen hin und | |
her, es gibt keine gültige Antwort, keine Synthese versöhnt These und | |
Antithese. Eine Frau klagt laut; sie geht da nicht wieder rein. Sie weint | |
und murrt und schimpft, wenn man in der Büroabteilung auf die Toilette | |
gehe, sei das wie in einem Luxusappartment, in den Waschräumen der Arbeiter | |
gebe es dagegen nicht mal warmes Wasser. „Schwarz wie ein Kohlenschlepper | |
kommt man abends heim.“ | |
In diesen Szenen wird das Leiden an ganz konkreten Umständen anschaulich, | |
und nachvollziehbar wird die Wut, die sich mit solcher Klarheit behauptet. | |
Willemonts Film endet nach zehn Minuten. Ein Vorarbeiter bittet die | |
umstehenden Arbeiter recht höflich, durch eine kleine Tür auf das Gelände | |
des Wonder-Werks zu treten; eine Reihe von Menschen leistet ihm Folge. Die | |
Schimpfende zählt nicht dazu. | |
Jean-Luc Godard entschließt sich, kein herkömmliches Kino mehr zu machen. | |
Gemeinsam mit Jean-Pierre Gorin gründet er die Gruppe Dziga Vertov und | |
dreht mehrere Filme, ohne dass sein Name im Abspann auftauchte. In „Tout va | |
bien“ (1972) treiben die beiden Filmemacher die in „La Reprise“ ganz | |
ernsthaft verhandelte Toilettenfrage ins Groteske. Die Arbeiter einer | |
Wurstfabrik bestreiken den Betrieb, den Chef sperren sie in seinem Büro | |
ein. Als er aufs Klo muss, führen sie ihn zu den elenden Latrinen, die | |
normalerweise sie benutzen – wenn es ihnen denn überhaupt erlaubt wird. Sie | |
klagen darüber, dass sie nur zweimal am Tag zur Toilette gehen dürfen. | |
Jetzt rächen sie sich, indem sie dem Chef die Latrinen zwar zeigen, | |
benutzen aber darf er sie nicht. Zurück in seinem Büro, zertrümmert er die | |
Fensterscheibe und pinkelt nach draußen. | |
Es gibt eine befreiend-regressive Freude an Schmutz, Exkrement und anderen | |
fest-flüssigen Substanzen. In „Partner“ zum Beispiel (1968), einem frühen | |
Film Bernardo Bertoluccis, wälzt sich ein Liebespaar auf dem Boden vor | |
einer Waschmaschine. Aus der tritt zunächst Schaum, dann weißer, zäher | |
Schleim; der Boden und die Liebenden sind bald bedeckt damit, am Ende des | |
Aktes ist die Frau tot. In „Teorema“ von Pier Paolo Pasolini (1968) lässt | |
sich ein Dienstmädchen, das im Laufe des Filmes zur Heiligen wird, bei | |
lebendigem Leibe begraben. In der Erde bildet sich dort, wo ihr Kopf ruht, | |
eine Lache aus ihren Tränen, halb heilige Flüssigkeit, halb banal-feuchter | |
Dreck. | |
Hinzu gesellt sich eine Freude am Kaputtmachen. Kaum ein Interieur bleibt | |
heil; die Bühnenzertrümmerungen eines Frank Castorf finden bei Godard, | |
Bertolucci oder Gorin ihre Vorläufer. Und mehr: So wie im Mai 1968 die | |
Stadt, die Arbeit, der Alltag mit all ihren gewohnten Abläufen kaputtgehen, | |
so geht in den Filmen die Narration kaputt, die Psychologie, die | |
Kontinuität, die Identifikationsmöglichkeit mit den Helden. | |
Wer wollte, nachdem er Godards „One Plus One“ (1968) gesehen hat, schon | |
sagen, wie er dieses Filmmonster in seinem Kopf zusammenbringt? Da sind die | |
Stones, die in einem Tonstudio „Sympathy for the Devil“ aufnehmen, da sind | |
die Black Panther, die auf einem Schrottplatz über die Revolution und den | |
Platz des schwarzen Mannes darin schwadronieren, sich Maschinengewehre | |
zuwerfen oder Eldridge Cleavers machistische Äußerungen über weiße Frauen | |
rezitieren. Da sind aus dem Off vorgetragene pornografische Texte, in denen | |
Persönlichkeiten aus Politik und Kultur – Breschnew, Kennedy und andere – | |
die Stelle der pornografischen Helden besetzen, und als wäre das nicht | |
genug, liest noch jemand aus „Mein Kampf“ vor. | |
Das ist ein Wuchern, wie man es im Kino von heute vergeblich sucht. Der | |
erhitzte politische Augenblick mit seinen klaren Fronten, seinen | |
eindeutigen Imperativen und seinen Dogmen hat ein Kino hervorgebracht, das | |
sich unentwegt selbst ins Wort fällt. Die Gegenwart dagegen, die | |
undogmatische, postideologische, der Lagerbildungen überdrüssige Gegenwart, | |
bringt, von Ausnahmen abgesehen, ein eher biederes Kino hervor. Vielleicht | |
ist das ein Indiz dafür, dass die Enge, gegen die 1968 antrat, in neuem | |
Gewand fortexistiert. | |
30 Apr 2008 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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