| # taz.de -- Tendenziell wäre dieser Erzählkosmos unendlich | |
| > Zeitlos schön: Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah schreibt in „Diebstahl�… | |
| > über junge Menschen im heutigen Tansania auf dem Weg ins Leben | |
| Bild: Auch das ist Sansibar: weiße Strände, türkises Wasser | |
| Von Katharina Granzin | |
| Als Abdulrazak Gurnah 2021 den Nobelpreis für Literatur bekam, wurde das | |
| deutschsprachige Verlags- und Buchhandelswesen [1][kalt davon erwischt.] | |
| Zwar waren ein paar Romane des britischen Autors mit tansanischen Wurzeln | |
| bereits ins Deutsche übersetzt worden; doch zur Zeit der Preisverleihung | |
| war kein einziger lieferbar. Es ist unwahrscheinlich, dass das dadurch | |
| ausgefallene Geschäft im Nachhinein vollständig kompensiert werden konnte. | |
| Aber wenn jetzt der erste Roman Gurnahs seit dem Nobelpreis erscheint, kann | |
| sein Verlag jedenfalls stolz einen goldmedaillenfarbenen Sticker mit der | |
| Aufschrift „Nobelpreis für Literatur“ auf den Umschlag kleben. Tatsächlich | |
| wäre zu wünschen, dass dieses bisschen Extrawerbung die Kauflaune der | |
| Lesewilligen anfacht, denn der Roman hat es verdient. | |
| Über „Diebstahl“ liegt eine eigentümlich schwebende, schöne Aura der | |
| Zeitlosigkeit, obgleich die Handlung genügend Details enthält, die sie in | |
| der aktuellen Gegenwart verorten. Auch der Handlungsort wäre im Grunde | |
| austauschbar. Zwar ist einiges an unaufdringlich eingeflochtenem | |
| Lokalkolorit vorhanden, aber das sollte wohl eher als Bonus betrachtet | |
| werden. | |
| Zum größten Teil spielt der Roman [2][in Sansibar,] zum kleineren in | |
| Daressalam. Die Geschichte aber, die erzählt wird, ist universell, | |
| beziehungsweise: eigentlich sind es mehrere Geschichten auf einmal. Zwar | |
| hängt hier alles mit allem zusammen, aber „Diebstahl“ einen | |
| multiperspektivischen Roman zu nennen, träfe es dennoch nicht ganz. Eher | |
| ist es so, als setze die Erzählung jedes Mal mit ganz neuer Energie an, | |
| wenn ein neuer Abschnitt aus anderer Perspektive beginnt. Es gibt nicht die | |
| eine Storyline, die von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet wird, | |
| sondern jede Person erlebt gleichsam ihren eigenen Roman, der hier und da | |
| an die Geschichten der anderen Personen anknüpft. | |
| Karim, Fauzia und Badar heißen die drei Hauptfiguren; es sind junge | |
| Menschen im heutigen Tansania auf dem Weg ins Leben. Interessanterweise | |
| beginnt das Buch jedoch mit einer Nebenfigur, die später nur noch in | |
| Außenperspektive gezeigt wird: Raya, so hebt die Erzählung an, sei sehr | |
| jung verheiratet worden. Im Folgenden wird mit nüchternen Worten Rayas | |
| Martyrium an der Seite eines viel älteren Ehemanns geschildert, den sie | |
| nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes verlässt, um wieder bei den Eltern | |
| zu wohnen. Dieser Sohn ist Karim, der von den Großeltern großgezogen wird, | |
| während seine Mutter distanziert bleibt und irgendwann fortzieht nach | |
| Daressalam, um an der Seite eines neuen Mannes ein neues Leben zu beginnen. | |
| Warum erfahren wir all das? Rayas Backgroundstory ist Information allein | |
| für die LeserInnen. Wenn diese Einleitung nicht wäre, wüssten wir nicht | |
| einmal ihren Namen, denn obwohl dieselbe Frau später, nun mittleren Alters, | |
| noch oft im Roman auftaucht, wird ihr Erscheinen stets nur mit der | |
| jeweiligen Funktion verknüpft, die sie für die Hauptfiguren hat: Für Karim | |
| ist sie seine entfremdete Mutter, zu der er, als er zum Studium nach | |
| Daressalam zieht, wieder eine Beziehung knüpfen kann, und die dennoch | |
| undurchschaubar für ihn bleibt. Für den um einige Jahre jüngeren Badar ist | |
| sie die „Herrin“, die er bewundert ob ihrer Schönheit und ihrer Kochkünst… | |
| Wer sie als Person ist, was sie fühlt und denkt – wer weiß das schon? | |
| Niemand erfährt es. An dieser Person, die zu Beginn Raya heißt und später | |
| bei allen Auftritten namenlos bleibt, wird paradigmatisch, und dabei ganz | |
| nebenbei, vorgeführt, wie wenig Menschen eigentlich voneinander wissen. | |
| Karim wird seinen Vater nie treffen und auch nicht erfahren, was dieser | |
| seiner Mutter angetan hat. Irgendwann lernt er, nach dem Studium | |
| zurückgekehrt nach Sansibar, die schöne und kluge Fauzia kennen, die er | |
| heiraten wird. In der Zwischenzeit wird Badar, der als ungeliebtes | |
| Pflegekind auf dem Land aufgewachsen ist, nach Daressalam verfrachtet, um | |
| als Hausangestellter bei Karims Mutter und deren Mann zu arbeiten. Dass er | |
| eigentlich mit der Familie verwandt ist, wird ihm verschwiegen. | |
| Die sehr verschiedenen Lebenserzählungen dieser und weiterer Menschen | |
| schlingen sich im Laufe des Romans gleichsam umeinander, gehen | |
| Verflechtungen ein, lösen sich wieder, mäandern wie verschiedenfarbige | |
| Erzählfäden nebeneinander durch die Zeit. Bei vielen auftretenden Personen | |
| hält der Roman sich eine Zeitlang auf, porträtiert auch Nebenfiguren so | |
| aufmerksam, dass dahinter weitere mögliche Welten und Geschichten sicht- | |
| und spürbar werden, die nur unausgeführt bleiben. Tendenziell wäre dieser | |
| Erzählkosmos unendlich, und was uns gezeigt wird, ist nur ein winziger | |
| Ausschnitt davon. | |
| Gleichzeitig ist es so, als wolle der Autor seinen Figuren auf keinen Fall | |
| zu nahe treten. Auf psychologisierende Innensicht verzichtet er weitgehend, | |
| Gefühle werden lapidar benannt, Leidenschaften gleichsam von außen | |
| betrachtet. Und obwohl der Roman eine eigentlich reichlich melodramatische | |
| Geschichte von Liebe und Verrat, Freundschaft und Entfremdung zu erzählen | |
| hat, wird eben kein Melodram daraus, sondern eine sanfte, | |
| menschenfreundliche Meditation über menschliche Beziehungen und die | |
| seltsamen Um- und Irrwege, auf die sie manchmal geraten können. | |
| 11 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /!5801128&SuchRahmen=Print | |
| [2] /!5885439&SuchRahmen=Print | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |