| # taz.de -- „Für solche Verbrechen darf es keine Straflosigkeit geben“ | |
| > Der aus München stammende Scharfschütze Daniel G. soll auf unbewaffnete | |
| > Zivilisten in Gaza geschossen haben. Das folge einem Muster, so der | |
| > Menschenrechtsanwalt Alexander Schwarz von der Organisation ECCHR | |
| Interview Mirco Keilberth | |
| taz: Herr Schwarz, Ihre Organisation hat Strafanzeige gegen einen aus | |
| München stammenden Scharfschützen der israelischen Armee gestellt. Was | |
| genau untersuchen Sie? | |
| Alexander Schwarz: Seit Beginn der israelischen Großoffensive in Gaza | |
| dokumentieren wir verschiedene Völkerstraftaten der israelischen Armee – | |
| darunter Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid. | |
| Die Strafanzeige gegen den aus München stammenden Daniel G. bezieht sich | |
| auf gezielte Tötungen unbewaffneter Zivilistinnen durch einen | |
| Scharfschützen einer israelischen Eliteeinheit. Mehrere Monate haben wir | |
| dazu Beweise gesichert, Zeugenaussagen sowie Video- und Bildmaterial | |
| ausgewertet und rechtlich eingeordnet. Unsere Analyse ergibt: Es besteht | |
| ein hinreichender Verdacht auf schwere Völkerstraftaten. | |
| taz: Der Soldat, gegen den Sie Ermittlungen fordern, ist deutscher und | |
| israelischer Staatsbürger? | |
| Schwarz: Nach unseren Recherchen handelt es sich um einen Mann aus München, | |
| der beide Staatsangehörigkeiten besitzen soll, zumindest aber seinen | |
| Lebensmittelpunkt in Deutschland hat. Er ist in München aufgewachsen und | |
| war bis zuletzt dort gemeldet, bevor eine Auskunftssperre eingerichtet | |
| wurde. Der unmittelbare Bezug zu Deutschland macht den Fall für die | |
| deutsche Justiz besonders relevant – Deutschland kann sich hier nicht | |
| einfach mit dem Hinweis auf Zuständigkeit anderer Gerichte zurückziehen. | |
| taz: Mittlerweile soll der Mann von Deutschland nach Israel ausgereist | |
| sein. Zuvor ist er offenbar zwischen Gaza und München gependelt. Wie genau | |
| sahen seine Kriegseinsätze aus? | |
| Schwarz: Nach unseren Informationen war er Teil der sogenannten | |
| Ghost-Einheit, einer Spezialeinheit, die in Gaza in dicht besiedelten | |
| Gebieten eingesetzt wurde. Dort sollen er und sein Kamerad Daniel R. | |
| wiederholt auf unbewaffnete Zivilisten geschossen haben – darunter Männer, | |
| die Verletzte bergen wollten, oder Personen in und in der Nähe von | |
| Krankenhäusern. Videoaufnahmen sowie Aussagen seiner Kameraden weisen | |
| deutlich darauf hin, dass diese Tötungen nicht auf spontane Exzesse | |
| zurückzuführen sind, sondern in ein taktisches Muster eingebettet waren. | |
| taz: Welche konkreten Taten werfen Sie Daniel G. vor? | |
| Schwarz: Nach unseren bisherigen Erkenntnissen bestehen gewichtige | |
| Anhaltspunkte, in mindestens zwei Fällen gezielt unbewaffnete Zivilisten in | |
| Gaza erschossen zu haben. Beide Tötungen ereigneten sich im November 2023 | |
| in Gaza-Stadt, unweit des Al-Kuds-Krankenhauses. In beiden Fällen zeigen | |
| Videoaufnahmen, dass die Getöteten zivile Kleidung trugen, keine Waffen bei | |
| sich hatten und sich nicht an Kampfhandlungen beteiligten. Nach | |
| völkerrechtlichen Maßstäben handelt es sich dabei um vorsätzliche Tötungen | |
| von Personen, die nach dem humanitären Völkerrecht geschützt sind. Die | |
| Schüsse erfolgten offenbar im Rahmen einer sogenannten open-fire procedure | |
| der Ghost-Unit, die es erlaubte, auf Männer im militärischen Alter in | |
| bestimmten Gebieten zu feuern – selbst dann, wenn sie erkennbar Zivilisten | |
| waren und keine Bedrohung vorlag. | |
| taz: Warum beschäftigen Sie sich gerade mit Scharfschützeneinsätzen? | |
| Schwarz: Wir beschäftigen uns mit verschiedenen Tatkomplexen in Gaza. Die | |
| uns vorliegenden Informationen deuten darauf hin, dass | |
| Scharfschützeneinheiten gezielt auf unbewaffnete Zivilisten geschossen | |
| haben. Besonders problematisch ist, dass sich diese Taten in ein Muster | |
| wiederholter Vorgehensweisen einfügen – eben durch sogenannte open-fire | |
| procedures, die pauschal ganze Gebiete zur Kampfzone erklären, in welchen | |
| unterschiedslos auf Zivilpersonen geschossen wird. Hinzu kommt, dass viele | |
| Tatverdächtige sich durch einen teilweise sehr selbstbewussten Umgang mit | |
| ihren Taten in sozialen Netzwerken selbst belasten und die Beweislage | |
| insgesamt verdichtet ist. | |
| taz: Gibt es Hinweise auf ein systematisches Vorgehen gegen Zivilisten? | |
| Schwarz: Das lässt sich aus Schüssen auf Menschen, die Verletzte bergen, | |
| präzise Schüsse auf Köpfe oder Oberkörper sowie gezielte Schüsse in | |
| unmittelbarer Nähe von Krankenhäusern schließen. | |
| taz: Auch internationale Ärzte, die in Krankenhäusern in Gaza im Einsatz | |
| waren, berichten von Kindern mit Schusswunden, die in Kopf, Brust oder | |
| Genitalbereich eingeliefert wurden. Wie erklären Sie dies? | |
| Schwarz: Tatsächlich liegen auch uns Berichte und Aussagen von Ärzten | |
| internationaler Hilfsorganisationen vor, die über präzise Brust- und | |
| Kopfschüsse von Kindern berichten, die in bestimmten Gebieten mit | |
| auffälliger Häufigkeit in kürzester Zeit erfolgt sind. Wenn Ärzte | |
| unabhängig voneinander beobachten, dass Kinder oder andere Zivilisten an | |
| ganz bestimmten Tagen und Orten systematisch durch Kopfschüsse oder Treffer | |
| in lebenswichtige Körperregionen verletzt werden, spricht das für einen | |
| geplanten Tötungseinsatz von Scharfschützen als Mittel der Kriegsführung. | |
| Damit wird nicht nur massiv Terror unter der leidenden Zivilbevölkerung in | |
| Gaza ausgeübt, sondern möglicherweise auch in Vernichtungsabsicht gehandelt | |
| – ein Tatbestandsmerkmal von Genozid. Das erfüllt den Tatbestand gleich | |
| mehrerer Völkerstraftaten. | |
| taz: Wie ordnen Sie den Einsatz der Scharfschützeneinheit rechtlich ein? | |
| Schwarz: Das humanitäre Völkerrecht verpflichtet alle Konfliktparteien, | |
| zwischen Zivilpersonen und Kombattanten zu unterscheiden und medizinische | |
| Einrichtungen sowie Personal besonders zu schützen. Wenn Scharfschützen | |
| wiederholt auf unbewaffnete Zivilisten oder auf medizinisches Personal | |
| schießen, sind das klare Verstöße gegen diese Grundprinzipien. Im | |
| Völkerstrafrecht sprechen wir von „vorsätzlichen Tötungen“ von | |
| Zivilpersonen, die den Tatbestand von Kriegsverbrechen erfüllen können. | |
| Nach unserer bisherigen Analyse könnten hier sowohl Kriegsverbrechen gegen | |
| Zivilpersonen vorliegen sowie der Einsatz verbotener Methoden der | |
| Kriegsführung | |
| taz: Die israelische Armee verspricht, gegen mögliche Kriegsverbrechen der | |
| eigenen Soldaten zu ermitteln. Gibt es belegte Fälle? | |
| Schwarz: Bislang sehen wir keine ernsthaften Ermittlungen innerhalb Israels | |
| zu diesen Vorfällen. Im Gegenteil: Die Erfahrungen mit dem israelischen | |
| Justizsystem belegen vielmehr eine weitgehende Straflosigkeit, wenn es um | |
| Kriegsverbrechen der israelischen Armee an palästinensischen Zivilisten | |
| geht. Das ECCHR hat hierzu jüngst einen umfangreichen Bericht | |
| veröffentlicht, der dies dezidiert nachweist. | |
| Dieser Befund ist nicht nur für Verfahren vor nationalen Gerichten | |
| relevant, sondern auch für Verfahren vor dem Internationalen | |
| Strafgerichtshof. Die israelische Regierung hatte 2024 die vom IStGH | |
| erlassenen Haftbefehle gegen Premierminister Netanjahu und den ehemaligen | |
| Verteidigungsminister Gallant genau mit dem Hinweis zurückgewiesen, Israel | |
| sei als Rechtsstaat selbst zur unabhängigen Strafverfolgung in der Lage. | |
| Diese Behauptung trägt allerdings nicht, die Fakten sprechen dagegen. | |
| Und das ist einer der Gründe, warum wir hier aktiv werden: Das | |
| Völkerstrafrecht verpflichtet Staaten, Straflosigkeit zu vermeiden und | |
| internationale Lücken zu schließen. Deutschland hat hier als Vorreiter des | |
| Völkerstrafrechts eine ganz besondere Verantwortung. | |
| taz: Ist Deutschland verpflichtet zu ermitteln, wenn ein deutscher | |
| Staatsbürger im Ausland Verbrechen begeht? | |
| Schwarz: Wenn ein deutscher Staatsbürger oder eine Person mit | |
| Lebensmittelpunkt in Deutschland in solche Vorgänge verwickelt ist, hat die | |
| deutsche Justiz eine besondere Verpflichtung. Bestätigt sich die deutsche | |
| Staatsbürgerschaft, ist die Staatsanwaltschaft nach dem sogenannten aktiven | |
| Personalitätsprinzip verpflichtet, Ermittlungen aufzunehmen. Aber auch | |
| unabhängig von der Staatsbürgerschaft ergibt sich die Zuständigkeit der | |
| deutschen Justiz. Das Weltrechtsprinzip – zu dessen Geltung sich die | |
| deutsche Justiz wiederholt bekannt hat – verpflichtet zur Ermittlung | |
| solcher Verbrechen unabhängig vom Tatort und unabhängig von der Herkunft | |
| von Opfer und Täter. Jedenfalls dann, wenn, wie hier, ein Bezug zu | |
| Deutschland besteht. | |
| taz: Das würde bedeuten, dass die Bundesanwaltschaft für potenzielle jedes | |
| Völkerrechtsverbrechen zuständig wäre, das auf der Welt geschieht. Ist das | |
| überhaupt leistbar? | |
| Schwarz: Das Völkerstrafgesetzbuch sieht eine abgestufte Zuständigkeit vor. | |
| Entscheidend ist, ob ein sogenannter Inlandsbezug besteht, also ein | |
| konkreter Anknüpfungspunkt zu Deutschland: etwa wenn Täter oder Opfer | |
| deutsche Staatsangehörige sind, wenn sich Tatverdächtige in Deutschland | |
| aufhalten oder wenn hier Beweismaterial vorliegt. Diese Voraussetzungen | |
| liegen bei dem Sniper aus München offenbar vor. In solchen Fällen muss die | |
| Bundesanwaltschaft tätig werden. | |
| taz: Was fordern Sie von der deutschen Justiz? | |
| Schwarz: Wir erwarten eine unabhängige, gründliche und zügige Prüfung der | |
| vorliegenden Informationen. Es geht darum, rechtsstaatlich zu ermitteln. | |
| Unsere Forderung ist klar: Kriegsverbrechen und andere Völkerstraftaten | |
| dürfen nicht im Dunkeln bleiben. Deutschland muss seinen Verpflichtungen | |
| aus dem Völkerstrafrecht nachkommen – so wie es auch andere europäische | |
| Staaten bereits tun. | |
| taz: Müssen Israelis, die in Gaza Verbrechen begangen haben, generell damit | |
| rechnen, außerhalb Israels verhaftet zu werden? | |
| Schwarz: Für Soldaten, die in solche Taten verwickelt sind, bedeutet das: | |
| Ja, sie müssen im Ausland mit Ermittlungen und unter Umständen auch mit | |
| Haftbefehlen rechnen. Das ist kein theoretisches Szenario – wir sehen | |
| bereits in anderen europäischen Staaten erste Verfahren, und Deutschland | |
| steht hier in der Verantwortung, ebenfalls tätig zu werden. Straflosigkeit | |
| darf es für solche Verbrechen nicht geben. | |
| 6 Oct 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Mirco Keilberth | |
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