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# taz.de -- kritisch gesehen: Essstörung und Scheingigant
> Der wunderbar mäandernde Essay „Die Anrufung der Riesin“ von Lisa Krusche
> und Jenny Schäfer lässt sich immer wieder mit Gewinn aufschlagen
Bild: Mineralische Strukturen bilden in sich unbestimmte Landschaften der Vielf…
Ein Dialog zwischen Alice und der Raupe, Thema: Groß- und Kleinwerden und
die Verwirrung, die das stiftet; eine Sentenz zum Handeln von Landschaften
(die keine bloßen Kulissen seien) von der Anthropologin Anna Lowenhaupt
Tsing; ein Auszug aus einem Buch über das „Kontaktieren der Macht der
Wilden Frau“. Diese drei Zitate haben Lisa Krusche und Jenny Schäfer ihrem
Buch vorangestellt. Damit haben sie, so ist doch anzunehmen, die Eckpunkte
dessen grob bestimmt, was folgt. Dann ginge es in „Die Anrufung der Riesin“
also um die Frau als Teil der Natur, um deren Handlungsmacht – und um den
Verlust von Gewissheiten? Mal sehen.
„Ich suche nach den Riesen“, so eröffnet Krusche dann den eigentlichen
Text. Die seien „in meinem bisherigen Leben eher Randgestalten gewesen“,
„mehr oder minder verborgen“. Gut: Dann erinnert sie sich doch noch an ein
paar solcher Figuren, denen in den Büchern. Also der Scheinriese aus „Jim
Knopf“ etwa. Oder Christine Nöstlingers verliebte Brüder, Pelinka und
Satlasch.
Bloß: Sie fand sie damals gar nicht sonderlich interessant, schreibt
Krusche, das kam erst mit dem eigenen Wachsen. Denn: „Das Erwachsenwerden
hat mich schrumpfen lassen. Jetzt träume ich von Riesen.“ Auf der
gegenüberliegenden Seite ist ein kurzer Auszug aus bell hooks’„Lieben
lernen“ montiert, darüber, dass kleine Mädchen sich stark fühlten, Studien
zufolge, bis sie „sexistischen Botschaften ausgesetzt sind“ und darin
bestärkt werden, sich anzupassen. Klein zu werden. Krusches Schrumpfen ist
nicht bloß irgendwie verwoben mit ihrer Sozialisation, dem Kontakt mit dem
falschen Denken der anderen.
Welche Rolle spielen nun die Riesen,und welche hat die Riesin des Titels?
Die Suche danach gerät der 1990 in Hildesheim geborenen Autorin zu einem
mäandernd anmutenden, tatsächlich aber eher wie ein Steinbruch
funktionierenden Essay über Weiblichkeit und gesellschaftliche Erwartung,
den Kapitalismus und Essstörungen (und diese Aufzählung ist nicht einmal
entfernt vollständig). Den Hauptstrang bildet Krusches Ich-Perspektive,
gespeist auch aus Tagebucheinträgen. Ihn ergänzen Zitate aus ganz
unterschiedlichen Quellen; mal drängt sich so eine Kombination auf, mal
müssen die Bedeutungsfunken erst aktiv erzeugt werden: durchs
Gegeneinanderschlagen, so wie beim Feuer-Stein.
Steine interessieren erkennbar Jenny Schäfer, deren Fotos das Buch
vollenden – erschienen ist es zur Begleitung einer Ausstellung 2024 in
Nürnberg. Oberflächen unterschiedlichen Gesteins werden bei der Hamburgerin
zu Satellitenaufnahmen oder bloßem Muster, und manchmal möchte man kaum
noch bejahen, dass das da etwas mit Stein zu tun haben könnte.
Gestaltet hat den immer wieder mit Gewinn aufzuschlagenden Band die
Berlinerin Karin Kolb. Und die Stiftung Buchkunst zeichnete „Die Anrufung
der Riesin“ aus: als eines der 25 schönsten deutschen Bücher dieses Jahres.
Alexander Diehl
29 Jul 2025
## AUTOREN
Alexander Diehl
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