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# taz.de -- Klassenkampftanz vor der Kathedrale
> In Verden machen sich die Bürgerinnen ihr Theater selbst: Die
> Domfestspiele sind ein soziokulturelles Ereignis für die Stadt. Ein
> künstlerischer Erfolg sind sie aber auch
Bild: Über 100 Menschen auf der Bühne – und dahinter die beeindruckenden Ma…
Von Henning Bleyl
50 Jahre ist es her, dass Verden seine feste Spielstätte verlor, das
„Landestheater Niedersachsen-Mitte“. Noch immer kann man an der Aller
Menschen treffen, für die der 1975 erfolgte Abriss eine virulente Lücke
markiert – die auch architektonisch noch schmerzt, in Gestalt des wirklich
hässlichen Kreiszeitung-Gebäudes am selben Ort. Derzeit ist in Verden
dennoch so etwas wie „Stadttheater“ zu besichtigen. Denn so könnte man den
Begriff ja auch definieren: Als urbanes Ereignis und von der
Stadtbevölkerung selbst gestaltete Struktur.
Diese Struktur heißt „Domfestspiele“. Die finden alle drei Jahre statt,
aktuell mit der Produktion „Die Zündholzfrau“. Vor den mächtigen
Maßwerk-Fenstern des Doms stehen mehr Menschen auf der Bühne, als Zuschauer
in Theatern erlaubt sind, solange die Feuerwehr nicht anwesend ist. Schon
die schiere Menge der Schauspieler:innen reißt also die 99
Personen-Grenze, es sind so viele wie noch nie. Weitere 50 Menschen kümmern
sich um Bühnenbau, Kostümerie und Maske oder sind sonst wie Backstage
aktiv. Dass sie alle seit Januar viele Abende und seit Mai jedes Wochenende
investiert haben, zeigt: Verden ist Theaterstadt, selbst gemacht.
Thematisch betreten die „Domis“ jedes Mal Neuland. Während sich Worms vor
seinem Dom seit 1937 an den Nibelungen abarbeitet, durchstreift Verden
munter die Jahrhunderte. Seit 14 Jahren geschieht das unter der Regie von
Hans König, der die Stücke schreibt und auch die Musik komponiert. Nach
allerlei Mittelalterlichem oder auch Verdens Schwedenzeit ist König jetzt
im 19. Jahrhundert angekommen, mitten in der Dynamik der Gründerzeit,
befeuert durch den Sieg über Frankreich samt Raub des Pariser
Staatsschatzes. Das aufstrebende Verdener Bürgertum sitzt vergnügt im Salon
und versucht sich als Entrepreneurs und Fabrikanten. Bismarck nutzt derweil
die Attentate auf den Kaiser im Jahr 1878, um die Arbeiterbewegung per
„Sozialistengesetz“ zu kriminalisieren.
Dafür, dass die Verdener über Jahrhunderte eher Ackerbürger als Unternehmer
waren sind sie im Gründerboom richtig rege und kreativ. Allen voran
Wilibert Stendel, ein aufstrebender Gastwirt: Bald schon gehört ihm die
örtliche Zeitung, er prduziert Tüten, Ziegel, Zündhölzer, Tabak – und
Theaterstücke. Tatsächlich war Stendel der Begründer des ersten ganzjährig
bespielten Verdener Theaters. Immerhin ein Zweispartenhaus, Oper wurde auch
gegeben.
Mit Stendel hat König eine vielschichtige historische Hauptfigur gefunden.
Dass er dem kunstaffinen Unternehmer eine eher ahistorische Affäre mit
einer aufrührerischen Arbeiterin andichtet, ist ein wenig gewagt, eröffnet
aber Verhandlungsräume: Was ist Fortschritt, was ist gerecht – zum Beispiel
die Arbeitszeit von täglich 14 Stunden in den Verdener Fabriken? Die sei
noch „ausbaufähig“, findet Stendel zunächst – um sich dann überzeugen …
lassen, sein Theater dem Klassenkampf zu öffnen.
100 Menschen auf der Bühne, das könnte durchaus statisch wirken. Tut es
aber nicht, weil König starke Bilder baut. Und weil er die Menge immer
wieder in Bewegung bringt: Seine Massenchoreografie, bei der ein Walzer zur
Kampftanzzone zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft mutiert, hat
Pogo-Power. Nebenbei offenbart er auch die ersten Risse in der Stendelschen
Ehe.
Königs künstlerische Mittel sind vielfältig. Sie umfassen feinjustierte
Sounds ebenso wie psychodramatische Momente, etwa in Stendels
Selbstzweifeln. Dafür ist gut, dass drei wichtige Rollen mit externen
Profis besetzt sind – aber noch besser ist, dass Vania Brendel, Franziska
Mencz und Andreas Brendel ihr Können in einer Weise einbringen, die immer
anschlussfähig an die 97 anderen bleibt. Von denen übrigens einige
brillieren, etwa Uwe Pekau als völlig überforderter Bürgermeister.
Zu Königs Job gehört lokalhistorische Recherche, und so lässt er auch Anita
Augspurg auftreten: Sie war Deutschlands erste promovierte Juristin und
zeigte noch im Alter politische Weitsicht, indem sie 1923 Hitlers
Ausweisung aus Deutschland forderte. Im heimatlichen Verden debattiert sie
aber zunächst mal über das Frauenwahlrecht.
Um von all dem zu erzählen brauchen die Domfestspiele eine beinahe
bayreuthische Aufführungsdauer von dreieinhalb Stunden. Doch während die am
gleichen Tag eröffneten Wagnerspiele ihre „Meistersänger“ mit burschikoser
Komik banalisieren, schaffen die Verdener:innen etwas Bemerkenswertes:
Es ist nie langweilig und auch nicht kitschig – sondern cool.
29 Jul 2025
## AUTOREN
Henning Bleyl
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