# taz.de -- Der Titelessay von Harald Welzer: Idylle kaputt | |
> Jetzt ist unsereins gezwungen, richtig zu finden, was falsch ist: die | |
> Aufrüstung Deutschlands und Europas und eine retropolitische Regierung. | |
> Was machen wir daraus? | |
Bild: Die intellektuelle Stimmung gleicht dem bekannten Mittelgebirge: Umweltka… | |
[1][taz FUTURZWEI] | Je weiter die feindliche Übernahme nicht nur der | |
[2][USA], sondern auch die des von ihr maßgeblich geprägten westlichen | |
Gesellschaftsmodells durch das Racket um [3][Donald Trump] voranschreitet, | |
desto klarer wird dem Bewohner der bisherigen Insel der Glückseligkeit, wie | |
selig die gebotenen Umstände bislang tatsächlich waren. | |
Er denkt: Abgesehen von all dem, worüber man sich professionell erregte und | |
wogegen man mit beschränkten Mitteln und keinerlei Haftung anzuarbeiten | |
versuchte – es war doch sehr schön in der gerade vergehenden Ära des | |
[4][Kapitalismus], vor allem wenn man das Glück hatte, in der richtigen | |
Generation im richtigen Land geboren worden zu sein. | |
Die sozialstaatlich und demokratisch gepolsterte kapitalistische Idylle, | |
wie sie in Deutschland etwa die Ära [5][Merkel] verkörperte, bot ja doch | |
für die meisten Mitglieder der Gesellschaft erhebliche Lebenssicherheit und | |
viel Grund zum Einverstandensein, und dass sich Gruppen mit mehr als | |
berechtigter Kritik wie [6][Fridays for Future] und mehr als unberechtigtem | |
Ressentiment wie rechtsextrem wählende Ostdeutsche sicht- und hörbar machen | |
konnten, war nur einer von unendlich vielen Belegen dafür, dass man sich im | |
Rahmen eines zivilisatorischen Modells komfortabel einrichten konnte, das | |
Platz auch für Kritik oder Nörgelei bot. | |
Die Schläge, die dieses Modell durch die antimodernen Bestrebungen im | |
Gefolge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 einstecken musste, sodann | |
durch die Pandemie, sodann durch den [7][Krieg gegen die Ukraine] und die | |
beginnende Renaissance des Imperialismus und die damit sich schnell | |
verbreitende infektiöse Dummheit – all diese Schläge konnte es noch | |
einstecken. | |
## Schläge gegen das schöne Idyll | |
Wie der Korridor des Politischen unter diesen Schlägen aber sukzessive | |
immer enger wurde, konnte man an den Talkshows mit dem immer gleichen | |
Personal genauso ablesen wie am Selbstgespräch des politischen Journalismus | |
und natürlich am Scheitern einer Regierung, die erstmals hauptsächlich an | |
sich selbst zugrunde ging. | |
Und zwar ausgerechnet in dem Moment, wo in den USA eine Clique die | |
Präsidentschaftswahl gewinnen konnte, die ihr antidemokratisches und | |
antimodernes Programm zuvor in einem Drehbuch niedergelegt hatte, das auf | |
der europäischen Seite offenbar niemand zu lesen für nötig gehalten hatte. | |
Und falls irgendeine Referentin aus irgendetwas daraus ein Briefing für die | |
Damen und Herren Verantwortungsträger angefertigt hatte, zogen die zu | |
beschließen vor, dass es so schlimm ja doch wohl nicht kommen könnte. Die | |
Idylle war nämlich zu attraktiv, als dass jemand sie ohne Not hätte | |
verlassen mögen. | |
## Die Kacke ist am dampfen | |
Nach dem Amtsantritt von Donald Trump ging es dann in Politik und Medien, | |
bei aller Transparenz dessen, was in den USA geschah und geschieht, weiter | |
mit Selbstbeschwichtigung – gemixt aus selbstgefälliger Bräsigkeit, | |
Wunschdenken und mangelnder historischer Bildung. | |
Und dieser Mix transformierte sich alsbald in eine Sinfonie sich | |
steigernder Schockerlebnisse, gefolgt von der intellektuell wirklich | |
überwältigenden Erkenntnis, dass Trump und seine Prätorianer das alles | |
tatsächlich durchzogen, was sie angekündigt hatten. | |
Die eigentlich schlichte Tatsache, dass hier Männern, die an absolut nichts | |
anderem interessiert sind als an Geld und Macht, der reichste, militärisch, | |
digital und wirtschaftlich stärkste Staat der Welt in die Hände gefallen | |
war, hatten sie ja vorsichtshalber übersehen, weshalb Trumps Strategie, | |
alle in einen Modus des Reaktiven zu zwingen, wunderbarer aufging, als der | |
wahrscheinlich selbst vermutet hatte. | |
Nun ist, um es politiktheoretisch auf angemessenem Niveau zu formulieren, | |
die Kacke am Dampfen. | |
## Ein richtiges Leben im falschen? | |
Und deshalb ist unsereins gezwungen, plötzlich richtig zu finden, was | |
falsch ist: Die [8][Aufrüstung] Deutschlands und Europas – eine zwingende | |
Notwendigkeit gegen die Übermacht der Autokraten. Aber zugleich eine | |
ökologische Katastrophe angesichts all des Aufwands an Material und | |
Energie, den man benötigt, um fossile Kriegswaffen im ganz großen Stil zu | |
bauen. | |
Abgesehen davon, ob es überhaupt funktioniert und zeitgerecht an den Start | |
kommt, bringt uns das Aufrüstungsinferno weit weg von einer künftigen | |
Friedensordnung, und zuvor schon zu einer Abkehr davon, eine solche Ordnung | |
überhaupt für ein politisches Ziel zu halten. Ich muss aber trotzdem dafür | |
sein, weil anders, so scheint es, die verbliebenen Demokratien nicht zu | |
retten sind. | |
Ich muss es auch gut finden, dass Deutschland eine Regierungskoalition hat, | |
die in jeglicher Hinsicht retropolitisch ausgerichtet ist und keinerlei | |
Modernisierung Deutschlands zustande kriegen wird – denn sie hat sie ja | |
nicht einmal vor. | |
Denn im Sinne Europas, siehe oben, brauchte Deutschland schnell eine | |
handlungsfähige Regierung, die gemeinsames europäisches Handeln in Sachen | |
Verteidigungs-, Außen- und Wirtschaftspolitik vorantreibt. Ob sie schnell | |
und einig genug werden in Europa, steht aller Erfahrung nach sehr infrage, | |
macht aber nichts, ich muss dafür sein. | |
## Die Abschaffung der Idylle | |
Dass all diese Notwendigkeiten die Abwendung von einer zukunftsfähigen | |
Politik implizieren, zerstört nun die Idylle, in der ich mich als | |
kritischer Kritiker eingerichtet hatte, in beständiger Unruhe darüber, dass | |
das Notwendige in Sachen Klima und Ökologie viel zu langsam geschähe, in | |
wachsender Irritation, dass die perfiden Geschäftsmodelle der digitalen | |
Plattformen die Leute widerstandslos abhängig machten und an die Displays | |
fesselten, und im Entsetzen über die Indolenz der Politik nicht nur | |
gegenüber der [9][AfD], sondern über deren freundlicher Übernahme zunehmend | |
menschenfeindlicher Inhalte. | |
Aber: Die Idylle blieb ja doch idyllisch, solange der Rahmen einigermaßen | |
intakt war, in dem man seinen Beunruhigungen und Besorgnissen auf hohem | |
Niveau frönen konnte. | |
Alles dahin. Und dazu ist alles andere als sicher, dass die politische | |
Klasse hierzulande eine Brandmauer gegen die antimodernen Verlockungen | |
aufrichten mag, die aus den USA, aus [10][Argentinien] oder auch aus Ungarn | |
und Italien winken. | |
Oder ob es nicht Bestrebungen auch in Deutschland gibt, die den | |
Staatsstreich in den USA mit Sympathie betrachten, von „Kleiner Anfrage der | |
CDU“ bis zu „Deep-State“-Geraune bei der Welt und zum Crashen von | |
Kulturetats in der Hauptstadt, um der linksgrünversifften Szene mal endlich | |
das Wasser abzugraben. | |
## Erneute Aufbauarbeit | |
Es ist also kompliziert. Und an der eigenen Zerrissenheit dokumentiert sich | |
die Implosion der Idylle, die übrigens sehr viele NGOs und Stiftungen | |
weiter konservieren möchten, indem sie mit trotzigen Parolen wie „Jetzt | |
erst recht“ oder „Kurs halten“ sich der Erkenntnis so lange wie möglich | |
verweigern, dass sich die Ausgangslage für politisches Handeln massiv | |
verändert hat. | |
Meine persönliche Lösung: Nachdem sich alle „großen“ Ansätze der | |
Mehrheitsgewinnung für eine sozialökologische Transformation und all die | |
Millionenbeträge für „Demokratie leben“ und „Demokratie propagieren“ … | |
nicht tauglich erwiesen haben, die antimoderne Kulturrevolution | |
aufzuhalten, geschweige denn zu verhindern, macht es immerhin Sinn, unten | |
anzufangen und mit jungen Menschen Praxisprojekte auszubaldowern, in denen | |
man intervenierend lernt, wie man Handlungsspielräume nutzen kann, die es | |
nur in Demokratien gibt. | |
Und zugleich jene Selbstwirksamkeit erfährt, die man braucht, um gegen das | |
Falsche anzugehen. Und alle, die jetzt mitzuteilen haben, dass das ja nicht | |
die Welt rettet und viel zu klein ist, um die große Katastrophe abzuwenden, | |
mögen bitte zur Kenntnis nehmen, dass alles scheinbar Größere offenbar dazu | |
auch nicht nützlich war. | |
Die historische Dynamik, liebe Freundinnen und Freunde der guten Seite der | |
Macht, die liegt jetzt auf der Seite der Feinde der offenen Gesellschaft, | |
nicht auf unserer. Denkt nach, was das heißt. | |
Wenn die Idylle kaputt ist, muss man es sich selbst wenigstens so unbequem | |
machen, dass man die gewohnten Überzeugungen und Strategien ad acta legt, | |
die eigene Ratlosigkeit zur Kenntnis nimmt und die Brüche und Widersprüche | |
als produktive Gelegenheiten versteht, jetzt mal anders zu denken und zu | |
handeln als bislang. Wie genau, und wie viel Falsches man temporär richtig | |
finden muss, das gilt es jetzt herauszufinden. | |
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10 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
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