| # taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Alissa Geffert: Die Fête unseres Lebens | |
| Friends with Oranges spielen am Freitag ein Konzert im Roten Salon. Drei | |
| Freund:innen, die gemeinsam und einzeln Musik machen und in gemäldeartige | |
| Gewänder gekleidet sind. Die langen Ärmel und rüschigen Röcke passen | |
| perfekt in den Roten Salon. Finn Ronsdorf beginnt, fängt in einer | |
| theatralen Pose an zu singen und hat rot aufgemalte Wangen, die nicht von | |
| der sommerlichen Hitze stammen. „Boah, diese Stimme!“, kommentiert meine | |
| Begleitung begeistert. Ronsdorf kann stimmlich ausrasten wie [1][Nina | |
| Hagen] und einen gleichzeitig so berühren, wie man es schon fast vergessen | |
| hat. Seine Stimme ist wirklich nur eines: berührend, ein anderes Wort | |
| beschreibt es kaum, auch, wenn es pathetisch klingt. Theatral und | |
| pathetisch sein, ist an diesem Abend aber gewollt – bald haben wir alle im | |
| Publikum genauso rote Wangen wie Finn Ronsdorf. Lisa Harres folgt und setzt | |
| sich nach ihm ans Klavier, singt sich noch weiter nach oben und schlängelt | |
| sich hinauf bis zu den imposanten Kristalllüstern. Dann dröhnt der Bass und | |
| die Holzbläser stehen bereit: Komponist Ralph Heidel kommt dazu und | |
| begleitet Harres, bis es in eigene Stücke übergeht. Wir alle brüten im | |
| Saal, die schweren, roten Vorhänge bleiben zu, aber wir wippen mit unseren | |
| Körpern auch gern in der Hitze. | |
| Im Roten Salon habe ich einmal 48h verbracht, fällt mir ein, und dort | |
| zwischenzeitlich auf dem Boden geschlafen. Um als Hospitantin den | |
| Programmablauf einer Radioshow zu begleiten. Ein anderes Mal hatte ich dort | |
| eine Diskursveranstaltung besucht, in der es um Trost ging – „Trost ist | |
| eine Mutter“ hatte jemand auf der Bühne verlesen. Nach beiden Anlässen, so | |
| auch nach dem heutigen Abend, bin ich danach ins Prassnik, die Kneipe an | |
| der Torstraße, die in ihrem Interieur auch ein bisschen an ehemalige | |
| Salonkultur erinnert. | |
| ## Matjes am Marheinekeplatz | |
| Am Samstagmorgen gibt es ein kulturelles Gegenprogramm: ein salziges | |
| Matjesbrötchen in der Markthalle am Marheinekeplatz für 3,50 €. Der Plan | |
| ist es, zur Fête de la musique zu gehen und zu tanzen. Doch die Hitze macht | |
| uns so träge, dass wir uns in Zeitlupe bewegen wie Faultiere. Wir wälzen | |
| uns noch ewig in den Stühlen vor der Markthalle und kauen die | |
| Matjes-Schrippe, bis wir es endlich schaffen, einen Fuß vor den anderen zu | |
| setzen. Planlos laufen wir etwas später in Neukölln neben Kornblumen auf | |
| ausgetrockneten Wiesen und schütten uns die Reste aus unseren | |
| Wasserflaschen in den Nacken. Ein Marathon. Wir suchen Abkühlung, aber vor | |
| allem suchen wir die Fête und finden sie nicht. Unsere Hitzewanderung | |
| beschließen wir also wieder in das Epizentrum nach Kreuzberg zu verlagern | |
| und laufen zum Schlesischen Tor. | |
| Dort beobachte ich: Ein junges Kollektiv hat sich zwischen Späti und | |
| Auffahrt positioniert, um das zu tun, was an diesem Tag Programm ist: Fête. | |
| Musik machen. In ihrem Fall bedeutet das Trance – keine sanften Holzbläser, | |
| auch keine Indie-Band, aber die spielt als Alternative direkt gegenüber, | |
| auf der anderen Straßenseite. Das Problem: Ihre kleine Fête ist nicht | |
| angemeldet. Sagen ihnen fünf Polizisten. Um weiterzuspielen, müssten sie | |
| jetzt offiziell demonstrieren und alle zehn Minuten eine Rede halten. Denn: | |
| Spontane Demos sind bei der Fête de la musique erlaubt. Ein junger Mann aus | |
| dem Kollektiv zückt daraufhin sein Handy, tippt kurz und lässt sich eine | |
| Rede schreiben. Von ChatGPT. Dann stellt er sich vor die durchmischte | |
| Sonnenbrillen-Crowd, räuspert sich und beginnt: | |
| „Schön, dass ihr alle gekommen seid. Hier, heute, an diesem sonnigen Tag. | |
| Hier wird gelebt, geliebt und gelitten. Gemeinsam, ehrlich, laut.“ Dann | |
| wird es dramatischer: „In einer Zeit, in der Städte immer seelenloser und | |
| kontrollierter werden, sind Clubs die letzten Inseln der Freiheit. Aber: | |
| Sie stehen unter Druck! Steigende Mieten, Genehmigungswahnsinn – die Party | |
| ist nicht erlaubt!“ Aus der Menge ein zustimmendes „Genau!“. „Wir verli… | |
| nicht nur Räume – wir verlieren Träume!“, setzt er in hohen Tönen nach. | |
| Mein erstes Gedicht von ChatGPT bekam ich zu meinem 24. Geburtstag. Ich | |
| weiß die Zeilen noch auswendig. | |
| 24 Jun 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alissa Geffert | |
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