# taz.de -- Alina SchwermerErste Frauen: Über eine Kluft durch die Luft | |
Ein wahnsinniger Lärm, ein gewaltiges Zurückreißen des Kopfes, ein | |
unbeschreiblicher Ruck, ein Erdbeben, ein ausbrechender Vulkan, dann | |
Stille. […] Erschöpft, gerädert, mit demoliertem Kopf, mit steifem Nacken, | |
tastete ich mich ab: zwei Muskelrisse. Die Erregung [des Publikums] war auf | |
ihrem Höhepunkt.“ So beschreibt Mauricia de Thiers ihren ersten Stunt | |
überhaupt im Autoboliden 1904. In einem offenen Wagen ist sie da eine | |
45-Grad-Bahn hinabgerast und durch eine Art vertikale Schleife gefahren, | |
dabei fliegt das Gefährt kopfüber über eine Kluft durch die Luft. Es ist | |
eine lebensgefährliche Nummer, bei der sich die Französin oft verletzen | |
wird. Ihren Ruhm steigert das nur noch. Für das Publikum in Zirkus und | |
Variété ist es ein Nervenkitzel wie aus einer anderen Welt: Das noch kaum | |
verbreitete Automobil, das üblich maximal 20 km/h fährt, beschleunigt hier | |
auf 60 km/h. Ihr Stunt gilt als der erste Salto mit Auto überhaupt. Eine | |
der berühmtesten Sensationsartistinnen um 1900 wird so ausgerechnet eine | |
Frau im Auto. | |
Das unwahrscheinliche Leben der Mauricia de Thiers, bürgerlich Anaïs Marie | |
Betant, hat Stephanie Haerdle in ihrem lesenswerten Sachbuch „Keine Angst | |
haben, das ist unser Beruf!“ über Frauen im Zirkus recherchiert. | |
Unwahrscheinlich auch deshalb, weil de Thiers nach traditioneller Lesart | |
eigentlich keine Chance hatte, auf den Bühnen der Welt zu landen: Sie hat | |
kein sportliches Talent, ist nicht in einer Zirkusfamilie aufgewachsen und | |
stammt aus erdrückenden Kleinstadtverhältnissen, denen eine Frau um die | |
Jahrhundertwende schwer entkommt. „Man geht unter oder man geht fort“, so | |
beschreibt sie es knapp. Im Alter von 18 Jahren flüchtet die | |
adrenalinsüchtige Jugendliche mithilfe einer kurzlebigen Heirat und schlägt | |
sich dann in Nizza als Kassiererin durch. Bis sie eines Tages die | |
Radsportlerin Hélène Dutrieu auf ihrem freien Flug mit Fahrrad sieht. „Die | |
Gefahr lockte mich. Ich entdeckte in mir eine wagemutige Seele.“ | |
In der nun anbrechenden Epoche ist die Laufbahn von Mauricia de Thiers gar | |
nicht mehr so unwahrscheinlich. Denn gerade viele sportfremde Menschen, | |
schreibt Haerdle, schlagen einen Weg als Sensationsartist:innen ein. | |
Sie leben vor allem von ihrer physischen Attraktivität und ihrer | |
Todesverachtung. Darunter sind auch viele Frauen. Traditionelle Zirkusleute | |
fremdeln mit diesem Milieu: keine artistische Ausbildung, dennoch die | |
meiste Aufmerksamkeit und oft irre hohe Gehälter. Andere Beobachter | |
kritisieren, wie ersetzbar diese Sportler:innen für die Shows sind – für | |
jede tödlich verunglückte Person stehen zehn weitere Schlange, um für Ruhm | |
und Reichtum schnell zu leben und jung zu sterben. De Thiers’Autostunts | |
werden, so Haerdle, auch deshalb zur Sensation, weil hier Kernideologien | |
des aufkommenden 20. Jahrhunderts zusammenfließen: neue Erfindungen, | |
Beschleunigung, Geschwindigkeit, Individualismus und wissenschaftlicher | |
Fortschritt. Nebenbei verkörpert die unverheiratete glamouröse Französin, | |
die raucht, Auto fährt und sich aus Kirche nichts macht, ein Frauenbild, | |
das eigentlich erst in den 1920ern groß wird. | |
Mauricia de Thiers, die zwischen 1904 und 1916 von den USA bis Russland | |
auftritt, muss mit immer neuen Stunts den Thrill aufrechterhalten. Sie | |
versucht sich etwa an einem freien Flug in einer geschleuderten Kugel oder | |
einem Salto mortale zu Pferd. Oft hat sie Glück, dass sie Unfälle überlebt, | |
manche ihrer Nummern werden polizeilich verboten. Im Gegensatz zu vielen | |
Sensationsartist:innen erlebt sie ihren Ruhestand tatsächlich. Nach | |
dem Abschied aus dem Showgeschäft im Alter von 30 Jahren lebt Mauricia de | |
Thiers noch zwei weitere Leben. Als Ehefrau und Muse des Kunstkritikers | |
Gustave Coquiot wird sie Teil der Pariser Kunstavantgarde und ist nach | |
dessen Tod als Kunstmäzenin tätig. Und ab 1946 wird sie eine der ersten | |
Bürgermeisterinnen in Frankreich in einem Dorf bei Paris. So beliebt soll | |
sie gewesen sein, dass sie bis zu ihrem Tod 1964 stets wiedergewählt wurde. | |
19 Jun 2025 | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
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