# taz.de -- Historische Stuntfahrerin: Über eine Kluft durch die Luft | |
> Mauricia de Thiers macht 1904 den wohl ersten Salto mit Auto überhaupt. | |
> Viele sportfremde Frauen machten damals Karriere als Sensationsartistin. | |
Bild: Grafik: Carmen Seils | |
„Ein wahnsinniger Lärm, ein gewaltiges Zurückreißen des Kopfes, ein | |
unbeschreiblicher Ruck, ein Erdbeben, ein ausbrechender Vulkan, dann | |
Stille. […] Erschöpft, gerädert, mit demoliertem Kopf, mit steifem Nacken, | |
tastete ich mich ab: zwei Muskelrisse. Die Erregung [des Publikums] war auf | |
ihrem Höhepunkt.“ So beschreibt Mauricia de Thiers ihren ersten Stunt | |
überhaupt im Autoboliden 1904. In einem offenen Wagen ist sie da eine | |
45-Grad-Bahn hinabgerast und durch eine Art vertikale Schleife gefahren, | |
dabei fliegt das Gefährt kopfüber über eine Kluft durch die Luft. | |
Es ist eine lebensgefährliche Nummer, bei der sich die Französin oft | |
verletzen wird. Ihren Ruhm steigert das nur noch. Für das Publikum in | |
Zirkus und Variété ist es ein Nervenkitzel wie aus einer anderen Welt: Das | |
noch kaum verbreitete Automobil, das üblich maximal 20 km/h fährt, | |
[1][beschleunigt hier auf 60 km/h]. Ihr Stunt gilt als der erste Salto mit | |
Auto überhaupt. Eine der berühmtesten Sensationsartistinnen um 1900 wird so | |
ausgerechnet eine Frau im Auto. | |
Das unwahrscheinliche Leben der Mauricia de Thiers, bürgerlich Anaïs Marie | |
Betant, hat Stephanie Haerdle in ihrem lesenswerten Sachbuch „Keine Angst | |
haben, das ist unser Beruf!“ über [2][Frauen im Zirkus] recherchiert. | |
Unwahrscheinlich auch deshalb, weil de Thiers nach traditioneller Lesart | |
eigentlich keine Chance hatte, auf den Bühnen der Welt zu landen: Sie hat | |
kein sportliches Talent, ist nicht in einer Zirkusfamilie aufgewachsen und | |
stammt aus erdrückenden Kleinstadtverhältnissen, denen eine Frau um die | |
Jahrhundertwende schwer entkommt. | |
„Man geht unter oder man geht fort“, so beschreibt sie es knapp. Im Alter | |
von 18 Jahren flüchtet die adrenalinsüchtige Jugendliche mithilfe einer | |
kurzlebigen Heirat und schlägt sich dann in Nizza als Kassiererin durch. | |
Bis sie eines Tages die Radsportlerin Hélène Dutrieu auf ihrem freien Flug | |
mit Fahrrad sieht. „Die Gefahr lockte mich. Ich entdeckte in mir eine | |
wagemutige Seele.“ | |
In der nun anbrechenden Epoche ist die Laufbahn von Mauricia de Thiers gar | |
nicht mehr so unwahrscheinlich. Denn gerade viele sportfremde Menschen, | |
schreibt Haerdle, schlagen einen Weg als Sensationsartist:innen ein. | |
Sie leben vor allem von ihrer physischen Attraktivität und ihrer | |
Todesverachtung. Darunter sind auch viele Frauen. Traditionelle Zirkusleute | |
fremdeln mit diesem Milieu: keine artistische Ausbildung, dennoch die | |
meiste Aufmerksamkeit und oft irre hohe Gehälter. | |
## Ersetzbare Sportlerinnen | |
Andere Beobachter kritisieren, wie ersetzbar diese Sportler:innen für | |
die Shows sind – für jede tödlich verunglückte Person stehen zehn weitere | |
Schlange, um für Ruhm und Reichtum schnell zu leben und jung zu sterben. De | |
Thiers’ Autostunts werden, so Haerdle, auch deshalb zur Sensation, weil | |
hier Kernideologien des aufkommenden 20. Jahrhunderts zusammenfließen: neue | |
Erfindungen, Beschleunigung, [3][Geschwindigkeit], Individualismus und | |
wissenschaftlicher Fortschritt. Nebenbei verkörpert die unverheiratete | |
glamouröse Französin, die raucht, Auto fährt und sich aus Kirche nichts | |
macht, ein Frauenbild, das eigentlich erst in den 1920ern groß wird. | |
Mauricia de Thiers, die zwischen 1904 und 1916 von den USA bis Russland | |
auftritt, muss mit immer neuen Stunts den Thrill aufrechterhalten. Sie | |
versucht sich etwa an einem freien Flug in einer geschleuderten Kugel oder | |
einem Salto mortale zu Pferd. Oft hat sie Glück, dass sie Unfälle überlebt, | |
manche ihrer Nummern werden polizeilich verboten. Im Gegensatz zu vielen | |
Sensationsartist:innen erlebt sie ihren Ruhestand tatsächlich. | |
Nach dem Abschied aus dem Showgeschäft im Alter von 30 Jahren lebt Mauricia | |
de Thiers noch zwei weitere Leben. Als Ehefrau und Muse des Kunstkritikers | |
Gustave Coquiot wird sie Teil der Pariser Kunstavantgarde und ist nach | |
dessen Tod als Kunstmäzenin tätig. Und ab 1946 wird sie eine der ersten | |
Bürgermeisterinnen in Frankreich in einem Dorf bei Paris. So beliebt soll | |
sie gewesen sein, dass sie bis zu ihrem Tod 1964 stets wiedergewählt wurde. | |
24 Aug 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Kinder-fragen-die-taz-antwortet/!6100410 | |
[2] /Zirkus-als-Quelle-des-Feminismus/!6068671 | |
[3] /Verkehrssicherheit-in-Berlin/!6063540 | |
## AUTOREN | |
Alina Schwermer | |
## TAGS | |
Kolumne Erste Frauen | |
Automobilbranche | |
Zirkus | |
Frauensport | |
wochentaz | |
Illegale Autorennen | |
Kolumne Erste Frauen | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kinder fragen, die taz antwortet: Wieso gibt es eigentlich Rennautos? | |
Wir wollen von Kindern wissen, welche Fragen sie beschäftigen. Jede Woche | |
beantworten wir eine. Diese Frage kommt von Esra, 5 Jahre alt. | |
Illegales Autorennen in Ludwigsburg: Männer mit Mercedes im Kopf | |
Ein Raser hat am Donnerstag zwei unbeteiligte Frauen getötet. Mutmaßlich | |
war es ein illegales Rennen. Im Netz zeigen Videos die PS-getriebene | |
Männlichkeit. | |
Frauen im Rennsport: Allein unter Machos | |
Maria Teresa de Filippis schaffte es 1958 in die Formel 1. Das brachte ihr | |
Respekt ein und doch gilt Motorsport bis heute als Männersache. |