Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- „Die wilden Filme finde ich sehr spannend“
> Heleen Gerritsen, die neue Künstlerische Direktorin der Deutschen
> Kinemathek, findet, dass Film die Welt verbessern kann
Bild: Ist für Filmgeschichte zum Anfassen: Heleen Gerritsen
Interview Jenni Zylka
taz: Frau Gerritsen, was fasziniert Sie an alten Filmen?
Heleen Gerritsen: Mit alten Filmen ist es ein bisschen wie mit Archäologie
oder wie mit dem Meer: ein Gefühl endloser Tiefe. Aktuelle Filme bieten
natürlich auch eine große Vielfalt. Aber die Filmgeschichte wimmelt von
Entdeckungen und Inspirationen zum Weiterlesen. Ich bin in den Niederlanden
aufgewachsen, da konnte man – wie auch früher in Deutschland – tolle
Filmkunst zu regulären Zeiten im Fernsehen erleben. Mit meiner Mutter habe
ich oft klassische französische Filme geschaut, sie war Simone-Signoret-
und Jean-Marais-Fan. Und dann hat Holland eine Dokumentarfilmtradition –
Filme, in denen wenig gesprochen wird, zum Beispiel von Volker Koepp, die
waren dann eher etwas für meinen Vater.
taz: Braucht man selbst ein gewisses Alter, um in der Filmgeschichte
zurückzugehen?
Gerritsen: Ich glaube nicht. Ich finde alle Medien, also Bewegtbild
generell, faszinierend, verbringe viel Zeit auf Tiktok und Instagram – und
da gibt es mittlerweile auch viel Filmerbe zu sehen. Nur wird es eher auf
der ästhetischen Ebene wahrgenommen, oder alte Filme werden queer gelesen
oder als Beispiele für Feminismus. Klar, die Sehgewohnheiten haben sich
geändert. Aber wenn man sich zum Beispiel eine klassische Screwball-Comedy
anschaut – die wurden damals kein bisschen langsamer erzählt. Das sind
Lauffeuer an Gags.
taz: Als Künstlerische Leiterin der Deutschen Kinemathek haben Sie viel mit
dem deutschen Filmerbe zu tun, wie ist Ihr Verhältnis zu deutschen Filmen?
Gerritsen: Ich bin 2003 nach Berlin umgezogen, war vorher aber auch oft
hier, und fand es toll, dass Geschichte auf der Straße spürbar ist. Durch
Filme und das Filmerbe kann man viel über die Geschichte eines Landes
erfahren. Durch das Leben in Berlin habe ich – neben den üblichen großen
Namen – die Berliner Filmschaffenden kennengelernt, zuerst auf ostdeutscher
und dann auch auf westdeutscher Seite. Die Filme von Ulrike Ottinger mag
ich sehr. Aber auch Konrad Wolf, Wolfgang Staudte.
taz: Die letzten Jahre haben Sie für goEast, Festival des mittel- und
osteuropäischen Films, osteuropäische aktuelle Filme kuratiert, was
momentan besonders komplex ist. Können alte Filme auch eine Art von
Eskapismus darstellen?
Gerritsen: Na ja, auch mit Filmerbe kann man ernste, harte Themen angehen,
ich interessiere mich zum Beispiel sehr für das Verhältnis von Filmen und
Erinnerungskultur. Aber Filme geben einem prinzipiell den Glauben an die
Menschheit wieder. Film ist ja ein Gesamtkunstwerk, wo alles zusammenkommt,
Theater, Literatur, Musik, Kostüm, Bild. Zeitgenössische Filme sind, wie
ich finde, oft sehr formatiert. Im Filmerbe gibt es viel mehr Freiheit fürs
filmische Erzählen, und das, also die wilden Filme, finde ich sehr
spannend.
taz: Haben Dokumentar- und Spielfilme für Sie die gleiche Relevanz?
Gerritsen: Mich interessiert es, wenn Dokumentarfilm auch einen
ästhetischen Anspruch hat und sich tatsächlich als Film versteht und
weniger als Vehikel, um Informationen zu vermitteln. Aber ich glaube
ehrlich gesagt nicht, dass man mit einzelnen Filmen die Welt ändern kann,
schon gar nicht mit schlechten Filmen. Verbessern vielleicht schon – gute
Filme verbessern die Lebensqualität.
taz: Was haben Sie mit der Deutschen Kinemathek jetzt vor?
Gerritsen: Wir sind gerade im Übergangsquartier hier im E-Werk. Diesen Ort
müssen wir etablieren, und wir wollen neue Publikumsgruppen erschließen.
Wir werden mehr zielgerichtete Programme veranstalten, brauchen
Kooperationen mit der aktiven Filmbranche. In Berlin sind die
Kinolandschaft und die Filmkultur sehr divers. Das würde ich auch gerne in
unserem Hause sehen. Es heißt zwar Deutsche Kinemathek, aber sie soll für
alle da sein. Wichtig für mich ist, dass wir jetzt ein kleines Kino haben,
wir können also Retrospektiven oder Programme von aktuellen Filmschaffenden
präsentieren.
taz: Wie geht man mit dem Problem um, dass sich Film in Ausstellungen
schwer vermitteln lässt?
Gerritsen: Ich zitiere immer gerne Henri Langlois, der gesagt hat, „der Weg
durchs Museum muss ins Kino führen“. Es gibt viele Tendenzen im
Museumswesen dazu, wie man Filme ausstellt. Im letzten Jahrzehnt ging es
eher Richtung Rezeptionsgeschichte, und man hat viel mit Projektionen und
Ausschnitten gearbeitet. Aber Publikumsumfragen haben gezeigt, dass
Filmgeschichte auch zum Anfassen sein muss. Menschen lieben Gegenstände,
Geräte oder meinetwegen die Handschuhe von Marlene Dietrich, weil sie sich
ihre eigene Geschichte dazu ausdenken können. Und wir planen für das
Zwischenquartier gerade wieder sogenannte Sichtungsinseln, das ist vor
allem für die Fernsehsammlung gedacht.
taz: Gibt es schon Pläne für die Berlinale-Sektion Retrospektive, die Sie
ja auch übernommen haben?
Gerritsen: Wir möchten wieder größer werden. Wenn man einen narrativen
Bogen schlagen möchte und ein Thema wirklich ausleuchtet, dann sind 15
Filme sehr wenig.
taz: Wie kriegt man die Menschen überhaupt wieder ins Kino?
Gerritsen: Festivals sind eine große Chance. Unser Filmerbe-Festival „Film
Restored“ geht im Oktober los, in diesem Jahr mit dem Thema „Action“. Da
gibt’s großartige Einreichungen von Martial Arts bis Spionage, viel Genre.
Und das ist zum Beispiel eine gute Möglichkeit, auch junge Leute aufmerksam
zu machen.
taz: Gucken Sie auch Blockbuster?
Gerritsen: Ja, manchmal hat man einfach Lust auf Filme mit Explosionen.
19 Jun 2025
## AUTOREN
Jenni Zylka
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.