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# taz.de -- taz🐾thema: Halt im Rückgriff auf die Moderne
> Im Sommer gibt es interessante Retrospektiven zu sehen: Drei Vorreiter
> der Street Photography aus den USA in Köln, eine immersive Ausstellung
> über Wim Wenders in Bonn und Neoconcretismo der brasilianischen
> Künstlerin Lygia Clark in Berlin
Bild: Joseph Rodríguez, 220 West Houston Street, NY, 1984
Von Jana Janika Bach
Langsam löst sich die US-Kulturindustrie aus ihrer Schockstarre. So feierte
die „Met Gala“ trotz „Woke-Warnung“ und Antidiversitätsfeldzug jüngst
medienwirksam (und nicht ganz uneigennützig) Schwarze Mode. Am Broadway
proklamiert indes die Hispanic Society of America „Out of the Closets!
Into the Streets!“ und zeigt (bis 31. 8.) in der Ausstellung passend zum
Slogan der frühen LGBTQ+-Demos anhand von Fotos, wie einfallsreich die
erste Pride-Generation durch die Straßen zog.
Und was erwartet das Kunstpublikum diesseits des großen Teichs? Hier sucht
man anscheinend Halt im Rückgriff, etwa auf gemeinsame Werte einer Moderne,
wie es angesichts diverser anstehender Retrospektiven den Eindruck macht.
Von Yoko Onos breitbandigem Werk im Berliner Gropius Bau bis zur
Wiederentdeckung des Malers Auguste Herbin im Münchner Lenbachhaus reicht
die Palette; Wolfgang Tillmans, gefragt wie nie, bespielt das Pariser
Centre Pompidou, das Museum of Cycladic Art in Athen präsentiert Aquarelle
von Marlene Dumas und die Kunsthalle Praha eine Rückschau aufs Œuvre des
Künstlerpaars Anna-Eva Bergman und Hans Hartung.
Dabei offenbart sich das genuin Politische meist erst auf den zweiten Blick
– wie im Museum Ludwig in Köln, das in diesem Sommer (bis zum 12. 10.) drei
Vorreiter der Street Photography würdigt. Garry Winogrand etwa war ein
rastloser Flaneur, der als Junge die raue Bronx durchstreifte. Winogrand
hatte ein instinktives Gespür fürs Kompositorische und Szenen wie „Circle
Line Statue of Liberty Ferry“ (New York, 1971).
## Auge für das Profane
Auf dem Foto beugen sich ringsum Passagiere über die Reling. Bis auf ein
Paar, das wirkt, als habe man es für eine Modestrecke platziert; er im
Anzug, lässig angelehnt, sie in Ballerinas. Keiner auf dem Boot erkennt den
Fotografen als solchen bis zu dem Moment, da er blitzschnell seine Leica
zückt und abdrückt. Fürs Nachjustieren nahm sich Winogrand, manisch
produktiv, keine Zeit und etwaige Unschärfen in Kauf. Ihm galt, wie dem
Nouvelle-Vague-Gründer Jean-Luc Godard, per Zufall Generiertes als Ideal.
Als Winogrand 1984 starb, hinterließ er allein 2.500 unentwickelte Filme,
eine Art Enzyklopädie seines Amerikas.
Zur gleichen Generation der „New Social Documents“ oder „New Topographics…
gehört der mittlerweile 90-jährige US-Amerikaner Lee Friedlander, der sich
allerdings anderes zum Sujet erkor. Wie niemand sonst hatte er ein Auge für
das Profane, durch seine ironisierende Linse zur Kunst erhoben. Zum Signet
wurde sein eigener Schatten, der sich nicht selten in Form seines Kopfes
abzeichnete, zum Beispiel 1966 in New York auf dem Pelzmantel einer Dame.
Ikonische Bilder, die in der Kölner Schau um eine jüngere Position mit
Aufnahmen aus Joseph Rodríguez’ „Taxi-Serie“ ergänzt werden. Als kleine
Bravourstücke des Storytellings reichen sie in bester
sozialdokumentarischer Tradition über den Augenblick hinaus.
## Ehrung zum Achtzigsten
Auch für Wim Wenders war die Stadt seit eh und je mehr als bloß Kulisse für
seine Geschichten. Staunend näherte er sich ihr mit seiner Kamera, wie im
Kultfilm „Der Himmel über Berlin“ von 1987, um Mensch (oder Schutzengel)
wahrhaftig zu begreifen. Gewonnene Erkenntnisse übersetzte der
Autorenfilmer in eine einzigartige Bildsprache – von seinen Dramen, zuletzt
„Perfect Days“, bis zu seinen Dokumentarfilmen über Papst Franziskus,
Anselm Kiefer oder Pina Bausch.
Ungebrochen scheint Wenders’ Schaffensdrang, seitdem er vor zehn Jahren den
Goldenen Bären fürs Lebenswerk bei der Berlinale verliehen bekam. Jetzt
darf der Gratulationsreigen von Neuem beginnen – den Anfang macht die
Bundeskunsthalle in Bonn, die den deutschen Weltstar und Regisseur zum 80.
Geburtstag mit einer großen immersiven Ausstellung ehrt, die Fotos und
Filme mit frühen Collagen, archivalischen Inserts, Requisiten, Kostümen und
mehr vereint (1. 8. – 11. 1. 26).
## Körperliche Therapie
Lygia Clark wiederum hat etwas von der jungen „Jackie“ Kennedy, wie sie da
auf dem Hocker sitzt, eine grazile Gestalt, die Arme verschränkt, die Beine
gekreuzt. Und tatsächlich trennen Clark, geboren 1920 in Belo Horizonte im
Südosten Brasiliens, und die einstige First Lady gerade einmal acht Jahre.
Doch gilt es, in Bezug auf die brasilianische Malerin und Bildhauerin, die
in eine aristokratische Familie hineingeboren wurde, nicht voreilig
Schlüsse zu ziehen. Clark, die mit Hélio Oiticica befreundet war und
während der Militärdiktatur ins Exil ging, schuf ein epochales Werk, das
die Kunst radikal erweiterte. Von frühen monochromen Gemälden über
interaktive Objekte fand die Mitbegründerin des brasilianischen
Neoconcretismo zu einem experimentellen, betont körperlichen
Therapieansatz.
Berühmt wurde Clark zunächst für ihre „Bichos“, übersetzt „Getier“ …
„Ding“, klapp- und faltbare Metallgetüme. Aber auch ihre schrägen Masken,
Brillen und Anzüge sollten sinnlich anregen, aufgesetzt und getragen
werden. Eben dazu lädt die Neue Nationalgalerie in Berlin nun (bis 12. 10.)
ein, die mit 120 Werken aus allen Schaffenszyklen der Ausnahmekünstlerin
zur aktiven Teilnahme auffordert. Ob in Mies van der Rohes kühlem Bau
ebenso Clarks hypnotischen Performances wie „Baba Antropofágica“, bei der
ein Proband mit speichelgetränktem Garn in einen Kokon eingesponnen wird,
zur Aufführung kommen, darf zu hoffen sein.
24 May 2025
## AUTOREN
Jana Janika Bach
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