# taz.de -- schlagloch: Die Mitschuld bleibt | |
> Die Bilder der Toten, Verletzten, Hungernden in Gaza sind inzwischen zu | |
> krass – und Deutschland kritisiert Israels Kriegspolitik. Diese Einsicht | |
> kommt zu spät | |
Eilig verlassen nun manche das sinkende Schiff der Realitätsverleugnung, zu | |
krass sind die Bilder der Hungernden in Gaza. Einsicht, Opportunismus, | |
Heuchelei – da ist alles zu haben. Wer in den vergangenen 20 Monaten die | |
Augen vor dem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung fest verschlossen | |
hielt, fordert nun lauthals, nicht die Augen zu verschließen. Das hat | |
Chuzpe, Lars Klingbeil! Ich finde es allerdings eher obszön. | |
Krokodilstränen auch in manchen Redaktionen. Aber wo war denn in den | |
vergangenen 20 Monaten die vermeintlich vierte Gewalt? Wäre es nicht ihre | |
Aufgabe gewesen, die deutsche Unterstützung einer Kriegspolitik, die ihre | |
genozidalen Tendenzen nie verborgen hat, kritisch zu befragen? Stattdessen | |
trommelten viele lieber im propagandistischen Geleitzug. | |
So entstand das Bild einer formierten Gesellschaft: Deutschland einig | |
hinter der Staatsräson versammelt, bis auf eine Minderheit migrantischer, | |
antizionistischer Schmuddelkinder. Doch die formierte Gesellschaft ist eine | |
Schimäre. Seit mindestens einem Jahr, womöglich schon länger, hat die | |
deutsche Israel-Politik keine Mehrheit in der Bevölkerung. In Umfragen | |
zeigen zwei Drittel „kein Verständnis“ für Israels Vorgehen in Gaza. Eben… | |
viele sind unter den Anhängern aller Parteien gegen Deutschlands | |
militärische Unterstützung dieses Krieges. Zuletzt stieg die Kurve der | |
Ablehnung auf 80 Prozent. | |
Das wirft Fragen auf, schwierige Fragen nach dem politischen Charakter | |
Deutschlands und seiner politischen Klasse. Zunächst: Das massenhafte Nein | |
zur offiziellen Israel-Politik bleibt ein schweigender Dissens, es ändert | |
nichts an der Marginalisierung der Opposition auf der Straße. In keinem | |
anderen westeuropäischen Land sind die Gaza-Solidaritäts-Bekundungen so | |
winzig wie in Deutschland. Woher rührt die Passivität? Angst vor | |
Diffamierung? Vor dem Polizeiknüppel? Oder schlicht Trägheit? | |
Was die Lethargie betrifft, so befreit sie nicht von Mitschuld. Nachdem die | |
Gefahr eines Genozids durch den Internationalen Gerichtshof als plausibel | |
bezeichnet wurde, war Deutschland als Unterzeichner der | |
Anti-Genozid-Konvention verpflichtet, dieser Gefahr entgegenzuwirken. | |
Bekanntlich tat die Regierung das Gegenteil, lieferte Rüstungsgüter. | |
Deshalb trifft sie der Vorwurf der Mitschuld zuerst, aber er trifft auch | |
uns alle. Nach Art. 25 des Grundgesetzes steht Völkerrecht über den | |
nationalen Gesetzen, erzeugt „Rechte und Pflichten unmittelbar für die | |
Bewohner des Bundesgebiets“. Das öffentliche Schweigen der Vielen kommt | |
passiver Komplizenschaft gleich. Nun gibt es gute und schlechte Gründe, | |
wenn so viele Deutsche die offizielle Staatsräson nicht teilen. Hier der | |
Wunsch nach Humanität und Gerechtigkeit für Palästinenser:innen, dort die | |
alte, antisemitisch konturierte Aversion gegen Israel – und beides | |
überlappt sich. Etwa 30 Prozent der Befragten bejahen, dass ihnen Juden | |
unsympathischer würden durch Israels Politik. Und dass die israelische | |
Politik ein berechtigter Grund für Feindseligkeit gegenüber Juden sei. | |
Deshalb hat die Kluft zwischen der Bevölkerungsmeinung und den | |
Proklamationen der politischen Klasse auch eine bedrohliche Seite. Eines | |
Tages könnte der Dissens nicht mehr still sein, sondern sich gewalttätig | |
Luft machen – gegen Juden und Jüdinnen nebenan. Diese Sorge höre ich in | |
links-jüdischen Kreisen schon lange. Doch befangen im selbstgestrickten | |
Mythos, das purifizierte, läuternde Deutschland zu verkörpern, scheint die | |
politische Elite unfähig, sich der tiefgreifenden Spaltung des Landes zu | |
widmen und ihr mit demokratischen Mitteln zu begegnen – etwa durch eine | |
offene Debatte, wie mit Israels Rechtsextremismus umzugehen sei. | |
Stattdessen werden Pappschilder gejagt und Kunstausstellungen zensiert. Es | |
bleibt festzuhalten, dass die autoritär vorgetragene Israel-Politik der | |
vergangenen 20 Monate vielfältigen Schaden angerichtet hat. Zuallererst an | |
Leib, Leben und Seele unzähliger Frauen, Männer und Kinder in Gaza. Aber | |
Schaden auch für Deutschland selbst, für sein außenpolitisches Ansehen, | |
sein Standing im Völkerrecht, seine Beziehungen zu Menschenrechtsaktivisten | |
vieler Länder. Beschädigt ist gleichfalls die soziale Textur der | |
Einwanderungsgesellschaft, mit tiefgreifenden, womöglich irreparablen | |
Entfremdungen. | |
Und warum das alles? Für die Antwort müsste ein ganzes Bündel von Faktoren | |
analysiert werden. Ich beschränke mich auf das Stichwort Whitewashing. Das | |
„Märchen der Versöhnung“, von dem gerade wieder viel die Rede war, ist in | |
der Tat ein Märchen, eine fake-history. Die Bundesrepublik unter Kanzler | |
Konrad Adenauer erkaufte sich mit Geld und Rüstungslieferungen an Israel | |
das Recht, von Wiedergutmachung und Versöhnung zu reden, ohne jegliches | |
Schuldeingeständnis – ein realpolitischer Deal, um von den Westmächten | |
rehabilitiert zu werden. | |
Und ähnlich wie die damalige deutsche Israel-Politik dabei half, der | |
Auseinandersetzung mit eigener Täterschaft aus dem Weg zu gehen, soll die | |
heutige Unterstützung Israels den Anstieg des Völkischen in Deutschland | |
kaschieren. Aber das funktioniert natürlich nicht. Alles rhetorische | |
Insistieren auf der historischen Schuld Deutschlands verdeckt nur überaus | |
notdürftig die jüngere Schuld: den Wiederaufstieg faschistischen | |
Gedankenguts nicht verhindert zu haben. Und die AfD verfolgt heute dasselbe | |
Whitewashing-Modell wie Adenauer in den 1950ern Jahren, nämlich sich durch | |
eine Beziehung zu Israel äußerlich vom Antisemitismus zu reinigen. So | |
liegt in all dem eine bittere Ironie. Der einzige hohe Preis, den | |
Deutschland je bezahlte für den Massenmord an Juden und Jüdinnen ist die | |
selbstverordnete Zwangsehe mit einem rechtsextrem regierten Israel. | |
28 May 2025 | |
## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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