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# taz.de -- Schwangere als Versuchsobjekte benutzt
> Im Göttinger Uniklinikum kamen während der Nazidiktatur über 120
> Zwangsarbeitende zum Einsatz. Die meisten von ihnen waren Frauen, die
> gewaltsam verschleppt wurden
Bild: 2008 errichteter Gedenkstein: Chance des kollektiven Erinnerns
Von Reimar Paul
Auf dem Vorhof des philosophischen Seminars der Uni Göttingen steht ein
Gedenkstein aus rotem Granit. Bis in die 1970er-Jahre beherbergte der
wuchtige Bau die Frauenklinik der Universität. Das 2008 errichtete Mahnmal
ist den rund 120 Frauen und Männern gewidmet, die während der Nazidiktatur
im Universitätsklinikum Zwangsarbeit leisten mussten.
„Eine Chance des kollektiven Erinnerns“ solle der Stein sein, sagt Cornelia
Krapp. Das zweite große Unrecht, das die Deutschen den Zwangsarbeiterinnen
und Zwangsarbeitern angetan hätten, der Versuch nämlich, ihr Schicksal nach
Ende des Zweiten Weltkrieges weitgehend zu vergessen, werde auf diese Weise
wenigstens symbolisch gemildert. Krapp ist Hebamme und ehrenamtlich aktiv
für die Göttinger Geschichtswerkstatt. An diesem Tag führt sie Besucher
beim Rundgang „Medizin im Nationalsozialismus“ über das frühere
Klinikgelände.
Im Göttinger Klinikum wurden die meist aus Polen, der Sowjetunion und den
Niederlanden gewaltsam entführten Zwangsarbeitenden überwiegend in der
Krankenpflege, der Wäscherei, der Gärtnerei, als Küchenhilfe oder als
Reinigungskräfte eingesetzt, fanden Historiker heraus. Sie werteten dazu
unter anderem die Lohnkartensammlung der Personalabteilung in der
Medizinischen Fakultät und Archive des Internationalen Roten Kreuzes aus.
Die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter lebten in Baracken auf dem
Krankenhausgelände und auf dem Dachboden des Pathologischen Instituts.
Göttingen war kein Einzelfall. In der NS-Zeit hatten mehrere deutsche
Unikliniken Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigt. „Die
meisten Zwangsarbeiter in den Kliniken waren sehr jung“, erzählt Krapp. 60
Prozent von ihnen seien noch nicht einmal 22 Jahre alt gewesen.
Schwangerschaften von Zwangsarbeiterinnen waren in Nazi-Deutschland
unerwünscht: Sie hielten die Frauen von der Arbeit ab. Und doch kamen in
Krankenhäusern sowie in Lagern und Einzelunterkünften Kinder von
Zwangsarbeiterinnen zur Welt. Geburten von Zwangsarbeiterkindern lassen
sich für Göttingen anhand der „Geburtsbücher“ der Universitätsfrauenkli…
und der Einwohnermeldekartei der Stadt Göttingen sowohl in der Frauenklinik
als auch in einer Entbindungsbaracke auf dem damaligen
Universitätssportfeld nachweisen.
Wie Unterlagen des Oberpräsidenten der Provinz Hannover belegen, nutzte die
Universitätsfrauenklinik schwangere Zwangsarbeiterinnen aus einem der
„Gemeinschaftslager“ der Göttinger Industrie- und Gewerbebetriebe auch für
Lehrzwecke. Im April 1944 hatte Heinrich Martius, Göttinger Ordinarius für
Gynäkologie und Geburtsmedizin, beim Amt für Volkswohlfahrt (NSV) um die
Zuweisung von „Hausschwangeren“ nachgesucht. Der Kreisleiter des NSV-Heimes
protestierte jedoch gegen dieses Ansinnen mit der Begründung, diese Frauen
seien zu „wertvoll“. Er unterbreitete gleichzeitig den Vorschlag „als
Versuchsobjekt fremdvölkische Frauen heranzuziehen“, die – so der
Kreisleiter – „in genügender Zahl zur Verfügung stehen“. Tatsächlich w…
in Göttingen etwa 50 junge Polinnen und Russinnen als sogenannte
Hausschwangere benutzt, an denen die Medizinstudenten vaginale
Untersuchungen übten.
In der früheren Chirurgischen Universitätsklinik hatten Göttinger Ärzte im
Nationalsozialismus mindestens 800 Männer zwangssterilisiert. In der
benachbarten Frauenklinik seien ebenso viele Frauen von diesem Eingriff
betroffen gewesen, sagt Krapp. Grundlage für die Maßnahme war das 1933
erlassene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Als Gründe für
Zwangssterilisierungen galten etwa Taub- oder Blindheit, Trunksucht,
Epilepsie oder Schizophrenie. Endgültige Entscheidungen über die Eingriffe
trafen sogenannte Erbgesundheitsgerichte.
Aus der Inschrift auf einer kleinen Messingtafel neben dem Gebäudeeingang
geht hervor, dass im Deutschen Reich zwischen 1934 und 1945 insgesamt mehr
als 360.000 Zwangssterilisationen vorgenommen wurden. Etwa 4.500 Frauen und
500 Männer starben dabei.
14 May 2025
## AUTOREN
Reimar Paul
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