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# taz.de -- die sache ist: Auch der Urlaub ist viel mehr Schein als Sein
> Im NDR analysiert Oliver Sturms Hörspiel „Die Erschöpften“ spielerisch
> Gesellschaft
Bild: Foto: privat
Denken Sie schon an Ihren kommenden Urlaub? Planen Sie ihn? Arbeiten Sie
möglicherweise in einem Betrieb, in dem Sie die Genehmigung ihrer bezahlten
Freizeit, auf die Sie Anspruch haben, als regelrechten physischen oder
digitalen Urlaubsschein erhalten? Und, müssen Sie in der Frühstücks-,
Mittags- und der Pinkelpause immer mal wieder einen verstohlenen Blick auf
ihn werfen?
Dann sollten Sie, zur Entspannung, zur Unterhaltung, zur Selbst- und
Gegenwartsanalyse ins fünf-, online sogar zehnteilige Hörspiel „Die
Erschöpften“ eintauchen. Und es wird Ihnen ziemlich schnell dämmern, dass
auch Sie, ähnlich wie die Hauptfigur Sven Schmitz, urlaubsreif, aber nicht
urlaubsfähig sind: Das kapitalistische Leistungsprinzip stresst Sie
vielleicht sogar besonders in den Wochen, in denen die Lohnarbeit pausiert,
weil die ja die schönsten des Jahres zu sein haben. Es ist also nur noch
Schein-Urlaub, in Wirklichkeit aber Fortsetzung des Krieges der
Selbstperformanz mit anderen Mitteln.
Daraus, und aus dem ferienhistorischen Wissen, dass Urlaub ein genuin
modernes, zunächst militärisches, später allgemein arbeitsrechtliches
Phänomen ist – das seinen Ausdruck im Urlaubsschein findet – hat der
Holzmindener Regisseur und Dramatiker Oliver Sturm einen Plot gesponnen.
Der spielt in einer nahen Zukunft, in der soeben der Bundestag gesetzlich
den Antritt einer Urlaubsreise abhängig gemacht hat vom medizinischen
Nachweis, dass man auf ihr wirklich abschalten wird, und sie nicht nur aus
Imagegründen unternimmt.
Beim Allerweltstyp Sven Schmitz, der von Tom Schilling gesprochen wird und
auch Hans Castorp heißen könnte, es aber nicht tut, sind alle Parameter im
roten Bereich. Er wird zwangsweise in die Pre-Holiday-Klinik „Haus
Müßiggang“ in Bayern eingewiesen, ist sauer, und alles läuft aus dem Ruder.
Trotzdem erwirbt er am Ende einen Urlaubsberechtigungsschein.
Das ganze ist als Pastiche [1][von Thomas Manns „Der Zauberberg“] angelegt,
also als spielerische Bezugnahme, die – Pastiche kommt von Pastete –
fröhlich im Garten der Literatur ihre Füllung zusammensucht: Goethe, Musil,
France, Huysmans … Und Michael White.
Wie bei gutem Essen kann die fast am besten genießen, wer sie nicht alle
erkennt. Muss es nicht Mann-Fans erbosen, dass aus der faszinierenden
Kosmopolitin Claudia Chauchat eine von Jeanette Spassova schön garstig
gesprochene Nationalistin gleichen Namens, ja sogar die Hohepriesterin des
[2][real existierenden Anastasia-Kults], einer Blut-und-Boden-Sekte,
geworden ist? Schmitz erliegt ihr trotzdem – eine schöne Irritation.
Etwas sauer stößt auf, dass Sturm Vodou-Klischees bemühen muss, um die
Rollenzuschreibung der einzigen als Schwarz vorgestellten Person Abeni
(Dayan Kodua) als Reinigungskraft zu brechen. Darüber hinwegzuhören fällt
auch dank der Musik von Andreas Bick und Andreas Völker leicht. Die
gliedert, mal mit eingängigen Classic-Jazz-Phrasen – das markant
signethafte Intro! –, mal mit neckischen Pizzicato-Passagen à la Johann
Strauss die Szenen und Sequenzen, erlaubt zeitliche und räumliche Sprünge,
lässt das Hirn träumerisch im japanischen Badeteich des Sanatoriums
plätschern. Oft genug lässt sie dadurch angenehm vergessen, wie tief, ja
abgründig Sturms literarisches Spiel eine Gesellschaft analysiert, die so
dringend einen Urlaub nötig hätte. Von sich selbst. Benno Schirrmeister
15 May 2025
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## AUTOREN
Benno Schirrmeister
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