# taz.de -- Weniger Waffen, weniger Polizeitote | |
> Seit den Schüsse in Oldenburg wird der Ruf nach unbewaffneter Polizei | |
> lauter. In anderen Ländern ist das schon lange üblich | |
Von Robert Matthies | |
Der Tod des 21-jährigen Lorenz A. in Oldenburg, der in der Nacht zum | |
Ostersonntag [1][von einem Polizisten durch Schüsse von hinten getötet | |
wurde], hat die Debatte über die Verhältnismäßigkeit polizeilichen | |
Handelns, strukturellen Rassismus und auch über Alternativen zur Bewaffnung | |
der Polizei wieder angefeuert. Während die Deutsche Polizeigewerkschaft | |
(DPolG) die Chance nutzt, ihre Forderung nach einer flächendeckenden | |
Einführung von Tasern zu erneuern, also Elektroschockgeräten zur | |
vorübergehenden Lähmung, fordern Aktivist:innen und | |
zivilgesellschaftliche Projekte eine grundlegende Reform der | |
Polizeibewaffnung in Deutschland – [2][oder sogar deren Entwaffnung]. | |
Dass eine im Alltag unbewaffnete oder deutlich weniger bewaffnete Polizei | |
möglich ist, zeigen Länder wie Norwegen, Island, Irland, Neuseeland und | |
Großbritannien, [3][wo sie traditionell die Norm ist]. Dort kommt es [4][zu | |
deutlich weniger Todesfällen] durch Polizeischüsse. So tragen rund 90 | |
Prozent der Polizist:innen in England, Wales und Schottland im Alltag | |
keine Schusswaffen. Nur spezialisierte Einheiten wie die Armed Response | |
Units sind dort bewaffnet und werden bei Terrorlagen oder Überfällen | |
hinzugezogen. Grundlage ist [5][das Konzept des „Policing by Consent“], das | |
betont, dass die Polizei die Zustimmung der Bevölkerung braucht – und | |
deshalb möglichst unbewaffnet agieren sollte, [6][um Vertrauen zu | |
schaffen]. | |
Möglich ist ein solches Modell durch eine intensive | |
Deeskalationsausbildung, die Polizist:innen darauf vorbereitet, | |
Konflikte ohne Waffengewalt zu lösen. Sie lernen, [7][durch Kommunikation | |
und taktische Rückzugsstrategien] Konfrontationen zu entschärfen. | |
Großbritannien hat deshalb eine [8][der niedrigsten Raten tödlicher | |
Polizeigewalt] weltweit, seit 2010 lag die Zahl bei durchschnittlich drei | |
bis vier Todesfällen pro Jahr. Zum Vergleich: In Deutschland gab es [9][im | |
vergangenen Jahr 22 Todesfälle durch Polizeischüsse]. Dieses Jahr könnten | |
es noch mehr werden: Bis Ende April hat die Polizei bereits elf Menschen | |
erschossen. | |
Auch Neuseeland hat eine überwiegend unbewaffnete Polizei. Dort tragen etwa | |
95 Prozent der Polizist:innen im Streifendienst keine Schusswaffen. Für | |
den Notfall sind diese jedoch in speziellen Fächern in Polizeifahrzeugen | |
verfügbar und können etwa bei bewaffneten Konfrontationen eingesetzt | |
werden. Auch die neuseeländische Polizei betont ihre Rolle als Teil der | |
Gemeinschaft, was [10][durch Programme unterstützt wird, die auf | |
„Restorative Justice“ abzielen], ein Ansatz zur Konfliktlösung, der auf | |
Wiedergutmachung, Versöhnung und Heilung statt auf Bestrafung setzt. Neben | |
der Waffenlosigkeit ist auch hier die umfassende Ausbildung in | |
Kommunikation und Deeskalation ein zentrales Element. | |
Ein Pilotprojekt, das nach den Terroranschlägen von Christchurch 2019 | |
gestartet wurde und [11][bei dem einige Einheiten bewaffnet Streife | |
gingen], stieß in der neuseeländischen Bevölkerung auf starken Widerstand. | |
2020 wurde es wieder abgebrochen, stattdessen wurde die Ausbildung | |
verbessert, und Projekte wie das „Tactical Response Model“ sollen | |
Polizist:innen besser auf Krisensituationen vorbereiten. Zwischen 2000 | |
und 2020 gab es in Neuseeland durchschnittlich zwei bis drei [12][tödliche | |
Polizeischüsse pro Jahr]. | |
Auch in Norwegen tragen Polizist:innen im Alltag keine Schusswaffen, | |
haben darauf aber [13][in Einsatzfahrzeugen Zugriff]. Nach dem | |
rechtsextremen Anschlag von Anders Breivik 2011 wurde die Möglichkeit einer | |
routinemäßigen Bewaffnung diskutiert, aber schließlich abgelehnt. | |
Stattdessen setzte man auf strengere Regeln für den Waffeneinsatz und | |
Deeskalation. Tödliche Polizeischüsse sind in Norwegen extrem selten. | |
Noch deutlicher ist der Fall Island. Dort ist die Polizei ebenfalls mit | |
Ausnahme spezialisierter Einheiten unbewaffnet. [14][Tödliche Polizeigewalt | |
gibt es praktisch nicht]: Seit der Gründung der modernen Polizei im 18. | |
Jahrhundert gab es [15][nur einen tödlichen Polizeischuss im Jahr 2013], | |
der landesweit für einen Schock sorgte. | |
Aktuelle Projekte zur Entwaffnung der Polizei sind selten, aber es gibt | |
Ansätze. [16][Seit der Gründung der Police Scotland 2013], der zweitgrößten | |
Polizeibehörde im Vereinigten Königreich nach der Metropolitan Police, gibt | |
es dort [17][eine bewusste Politik, die Bewaffnung auf ein Minimum zu | |
beschränken]. Ein regelmäßig evaluiertes Programm verstärkte ab 2016 den | |
Einsatz von Deeskalationstechniken und weniger tödlichen Mitteln wie | |
Tasern. | |
Im kanadischen Toronto testete die Polizei 2016, [18][einige Cops ohne | |
Schusswaffen einzusetzen], insbesondere bei Einsätzen mit psychisch | |
Erkrankten. Das Projekt senkte die Todesrate, scheiterte aber an | |
Sicherheitsbedenken der Polizist:innen. | |
Kriminologische Forschung zeigt, dass unbewaffnete Polizei Konflikte auch | |
hierzulande entschärfen kann. Eine Studie von Dietrich Oberwittler und | |
Sebastian Roché fand 2018, [19][dass unbewaffnete Polizeimodelle in | |
multiethnischen Stadtteilen weniger Spannungen mit Jugendlichen auslösen]. | |
Dabei betonen die Forscher:innen, dass institutionelle [20][Transparenz und | |
Vertrauen] entscheidender sind als die Bewaffnung allein. | |
Einfach auf den deutschen Kontext übertragen lässt sich das Konzept einer | |
unbewaffneten Polizei nicht. Zum einen ist die Polizeikultur zu | |
unterschiedlich, zum anderen hat Deutschland eine höhere Prävalenz | |
illegaler Waffen und organisierter Kriminalität. | |
Auch in Deutschland gab es jedoch in den vergangenen Jahren vereinzelte | |
Diskussionen zur Entwaffnung der Polizei. 2016 etwa forderten die Bremer | |
Jusos, orientiert am britischen Modell, [21][eine Entwaffnung der | |
Streifenpolizei], um sie bürgernäher und weniger bedrohlich wirken zu | |
lassen. In Niedersachsen liefern aktuelle Studien und Projekte eine | |
Grundlage für eine Debatte über eine Entwaffnung der Polizei. Eine im | |
vergangenen Jahr veröffentlichte Studie der dortigen Polizeiakademie deckte | |
[22][Diskriminierungsrisiken in bewaffneten Polizeiroutinen] auf, | |
insbesondere bei Kontrollen von Personen mit Migrationshintergrund. | |
Projekte wie [23][„HateTown“ der Hamburger Polizeiakademie] wiederum setzen | |
an diesem Punkt an, indem sie vorurteilsgeleitete Handlungen in urbanen | |
Kontexten analysieren und konkrete Reformen vorschlagen. „HateTown“ | |
empfiehlt verstärkte Deeskalationstechniken und Sensibilisierungstrainings, | |
um Polizeibeamte für kulturelle und soziale Dynamiken zu schulen. Ziel ist | |
es, Konflikte zu entschärfen und das Vertrauen der Bevölkerung zu stärken, | |
insbesondere in Stadtteilen mit hoher Diversität. | |
Solche Ansätze könnten zumindest eine Grundlage für Reformen bilden, die | |
bewaffnete Routinen hinterfragen und alternative Einsatzstrategien wie | |
verbesserte Kommunikation fördern, auch wenn sie die Bewaffnung der Polizei | |
nicht komplett aufgeben. | |
10 May 2025 | |
## LINKS | |
[1] /!6083144&SuchRahmen=Print | |
[2] /!6080673&SuchRahmen=Print | |
[3] https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/sep/25/the-guardian-view-on-… | |
[4] https://www.bbc.com/news/magazine-19641398 | |
[5] /Die-ordnende-Macht-im-Londoner-Nebel/!571541/ | |
[6] https://www.gov.uk/government/publications/policing-by-consent/definition-o… | |
[7] https://www.met.police.uk/foi-ai/metropolitan-police/d/november-2022/de-esc… | |
[8] https://www.policeconduct.gov.uk/sites/default/files/documents/Annual-death… | |
[9] /!6080732&SuchRahmen=Print | |
[10] https://www.justice.govt.nz/courts/criminal/charged-with-a-crime/how-resto… | |
[11] https://www.rnz.co.nz/programmes/the-detail/story/2018807591/arming-the-po… | |
[12] https://academic.oup.com/policing/article/doi/10.1093/police/paac048/65760… | |
[13] https://www.france24.com/en/live-news/20230313-norway-s-police-train-to-re… | |
[14] https://icelandmonitor.mbl.is/news/news/2022/02/15/should_icelandic_police… | |
[15] https://www.bbc.com/news/world-europe-25190119 | |
[16] https://eprints.whiterose.ac.uk/id/eprint/210812/1/SA%2031.3%20Malik%20FIN… | |
[17] https://www.bbc.com/news/uk-scotland-57976196 | |
[18] https://www.cbc.ca/news/canada/toronto/toronto-policing-alternative-pilot-… | |
[19] https://academic.oup.com/policing/article-abstract/14/1/293/4877011 | |
[20] /!6084068&SuchRahmen=Print | |
[21] /!5343527&SuchRahmen=Print | |
[22] /!6083406&SuchRahmen=Print | |
[23] https://akademie-der-polizei.hamburg.de/forschungsprojekt-770994 | |
## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |