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# taz.de -- kritisch gesehen: Werden, Sein und Vergehen
> Gelungener Abend mit ernst genommenem Wirklichkeits-Input: „Wo de Tied
> vergeiht“ am Oldenburger Staatstheater
Noch unsicher erstrahlt ein mädchenhaftes Lächeln auf dem groß projizierten
Foto. Jetzt, Jahrzehnte später, steht eine Frau ernüchtert, aber
selbstbewusst auf der Theaterbühne und betrachtet ihr eigenes Jugendbild.
Leicht melancholisch fällt ein Vergleich aus zwischen dem erinnerten
Zustand mit dem jetzigen, geistig, körperlich. Es folgen trotzige Versuche,
Mut für die Zukunft zu schöpfen. „Wo de Tied vergeiht – Vom Vergehen der
Zeit“ – darüber räsonieren auf Platt- und Hochdeutsch 15
Laiendarsteller:innen, geboren zwischen 1947 und 2007, aus dem Großraum
Oldenburg in der aktuellen Stückentwicklung des Stadt-Ensembles am
örtlichen Staatstheater.
„Wo de Tied vergeiht“, Hochdeutsch: „Wie die Zeit vergeht“, wird schnell
als subjektive Erfahrung benannt, tickt die physikalische Zeit im
individuellen Erleben doch meistens gefühlt schneller oder langsamer, als
es objektive Messgeräte angeben. Noch genauer hingeschaut, kann vom Ticken,
Fließen, Verrinnen der Zeit, wie im Stücktitel vermerkt, keine Rede mehr
sein. Wirklich, also erlebbar ist ja immer nur der gegenwärtige Augenblick.
Zeit vergeht nicht, sie ist einfach da. Menschen vergehen in der Zeit. Was
auf der Bühne nun vor allem diejenigen deutlich machen, deren eigene
Lebenszeit knapp geworden scheint.
Alle Spieler:innen präsentieren, emotional stark gefärbt, Ankerpunkte
des Lebens und laden in Feierlaune zum Resümee ein, das jede
Anti-Aging-Fröhlichkeit schnell verstummen lässt: Einige dieser „Älteren“
verkünden glatt, keine Lust zu haben, in ein Seniorenheim entsorgt zu
werden, sondern selbstbestimmt die Zeit anhalten, also dem Leben freiwillig
ein Ende setzen zu wollen; kein Werden, kein Vergehen, kein Sein mehr.
Bis zu diesem herausfordernden Finale serviert ein bunter Bilderreigen
reichlich Rück- und Ausblicke. Jugendlicher Entdeckungs- und Aufbruchswille
steht da neben der Diagnose „beginnende Demenz“ und der facettenreich
aufgezeigten Einsamkeit im Alter – beschrieben als Gefühl, unsichtbar zu
werden in unserer Gesellschaft. Wie die Verlassenheit zur Verlorenheit
wird, ist besonders eindringlich zu erleben im sehnsüchtig gesuchten Dialog
einer Frau mit ihrem nur noch als Schatten anwesenden Gatten. Es gibt auch
traurige Zusammenfassungen der geschenkten Zeit – als Fremdeln mit sich
selbst. So beschreibt eine Frau ihr Leben als Warten – warten auf den nie
kommenden Vater, auf das Ende der Schule, den Mann zum Altwerden und was
nach dem Erwachsenwerden der Kinder wohl noch so alles kommt. Vergebliche
Hoffnungen.
Das Tolle an diesem Projekt der Abteilung Theatervermittlung und der Sparte
Niederdeutsche Bühne ist: Es wird auf Staatstheaterniveau inszeniert, der
Realitätsinput also sichtbar ernst genommen. So ist zeitgemäß apartes
Lichtdesign zu erleben. Regisseurin Hanna Puka und Dramaturgin Annika
Müller haben die Lebensgeschichten geschickt pointiert und zu einem
kontinuierlichen Erzählfluss verbunden, strukturiert durch lebendige
Wechsel von Monologen, ironischen Choreografien sowie Großgruppenszenen für
Kennenlernspiele und ausgelebte Partyfidelität. Die offensichtlich gut
angeleiteten Spieler:innen haben allesamt eine schöne Präsenz auf der
Bühne, wohl auch, weil hier ihre Themen mit ihren Worten verhandelt werden.
Besondere Aufmerksamkeit erfährt die Fluchtgeschichte von Anna Myronova,
die vor drei Jahren die Ukraine verließ und seither die Zeit als
stillstehend erlebt. Leider zu kurz kommen die Beiträge der jungen
Ensemblemitglieder. Insgesamt aber eröffnet der Abend ein weites Panorama
individueller Perspektiven auf verbleibende Lebenszeit. Zu erleben ist so
eine gelungene Partizipation von Alltagswirklichkeit an der
Staatstheaterkunst. Jens Fischer
29 Apr 2025
## AUTOREN
Jens Fischer
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