# taz.de -- crime scene: Das Mysterium der verschwundenen Kinder | |
Wenn du dich verlaufen hast, setz dich hin und schrei“, lautet eine der | |
drei wichtigsten Verhaltensanweisungen, die den Kindern in Camp Emerson | |
mitgegeben werden. Das Ferienlager liegt im Norden des Bundesstaats New | |
York und ist über viele Meilen von dichtem Wald umgeben. Es gehört der | |
reichen Familie Van Laar, aber es wird nicht von der Familie selbst | |
verwaltet. Das Wohnhaus der Eigentümer, ein aus der Schweiz importierter | |
Prunkbau, steht in einiger räumlicher Entfernung des Camps. Camp und | |
Haupthaus sind zwei getrennte Welten. Im Jahr 1978 ist zum ersten Mal die | |
13-jährige Tracy im Ferienlager dabei. Eigentlich hat sie sich auf einen | |
Sommer als Außenseiterin eingestellt, da findet sie wider Erwarten eine | |
Freundin: Barbara Van Laar, die vernachlässigte Tochter der reichen | |
Besitzer, hat bei ihren Eltern durchgesetzt, am Ferienlager teilnehmen zu | |
dürfen. Sie kennt die Wälder in- und auswendig und vertraut Tracy an, dass | |
sie einen Freund hat, den sie spätabends heimlich trifft. Doch eines Tages | |
kommt Barbara nicht wieder … | |
Tracy ist eine von vier Personen, aus deren Perspektive der Roman erzählt | |
wird. Die anderen drei heißen Louise, Judy und Alice. Alice Van Laar ist | |
Barbaras Mutter, eine Frau in mittleren Jahren, die zu früh geheiratet hat | |
und schwer am Verlust ihres geliebten Sohnes trägt, der 17 Jahre zuvor | |
spurlos verschwand und nie gefunden wurde. Louise, Betreuerin im Camp, | |
stammt aus der nahe gelegenen Kleinstadt und aus prekären Verhältnissen. | |
Sie ist verlobt, zumindest glaubt sie das, mit dem Sohn einer | |
einflussreichen, mit den Van Laars befreundeten Familie. Und Judy wird die | |
Person sein, die sowohl das Schicksal des damals achtjährigen | |
verschwundenen Jungen aufklärt als auch herausfindet, was mit Barbara | |
geschehen ist. Denn Judy ist Kriminalbeamtin – und beweist damit in den | |
siebziger Jahren, in denen der Roman hauptsächlich spielt, viel | |
Pioniergeist. Als einzige Frau unter sonst ausschließlich männlichen | |
Polizisten hat die 26-Jährige es oft nicht leicht. Bisher hat sie aber noch | |
nicht einmal gewagt, sich gegen den Willen ihrer konservativen Eltern eine | |
eigene Wohnung zu nehmen, um näher an ihrer Arbeitsstelle zu wohnen. | |
Diesen Roman als Thriller zu bezeichnen, wäre deutlich zu kurz gegriffen. | |
Er gewinnt seine Spannung zwar vor allem aus dem Mysterium der | |
verschwundenen Kinder, erzählt aber eine sehr viel weiter gehende | |
Geschichte über das zunehmende Knirschen im Sozialgefüge der | |
US-amerikanischen Gesellschaft in den siebziger Jahren – im Sozialgefüge | |
Neuenglands, wohlgemerkt. Das Romanpersonal ist ausschließlich weiß. Die | |
Rangunterschiede aber sind beträchtlich, denn zumindest die Besitzenden | |
nehmen es als naturgegeben an, dass ihnen eine gesellschaftliche | |
Sonderstellung zukommt. Doch die Autorin hat die wichtigste Handlungsebene | |
ihres Romans nicht umsonst in eine Zeit gelegt, in der diese Grundannahme | |
nicht mehr allgemein geteilt wird. Junge Frauen beginnen sich gegen die | |
ihnen traditionell zugewiesenen Rollen aufzulehnen, und die Erschütterung, | |
die das Verschwinden des Mädchens Barbara auslöst, rüttelt auch das bisher | |
vermeintlich so stabile Verhältnis von gesellschaftlichem Oben und Unten | |
durcheinander. Und während es unablässig rüttelt, hält Liz Moore die vielen | |
Erzählfäden, die sie in- und umeinander webt, jederzeit absolut souverän in | |
der Hand, um am Ende einen wunderschönen, unkonventionell geschnürten | |
Knoten daraus zu machen. Katharina Granzin | |
5 Apr 2025 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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