| # taz.de -- Dramen des Alltags | |
| > Die Schriftstellerin Yasmina Reza, berühmt für ihre Theaterstücke, hat | |
| > Gerichtsreportagen geschrieben – beeindruckende Feldstudien menschlichen | |
| > Verhaltens: „Die Rückseite des Lebens“ | |
| Bild: Was ist mit Gut und Böse zu fassen? Yasmina Reza | |
| Von Eva Behrendt | |
| Manchmal fesselt sie ein Detail. Das Päckchen Taschentücher zum Beispiel, | |
| das die unscheinbare Belastungszeugin Audrey Louvet während des Prozesses | |
| gegen ihren ehemaligen Geliebten, den des Mordes Angeklagten Rémi Chesne, | |
| „befingert wie die Perlen eines Rosenkranzes“. Der Friseur hat sie als | |
| Lockvogel benutzt, um den Ex-Geliebten seiner Frau, die sich das Leben | |
| genommen hat, zu ermorden – nur wegen Louvets Aussage steht er jetzt vor | |
| Gericht. Als schließlich Chesnes Tochter im Zeugenstand in Tränen | |
| ausbricht, reicht ihr Audrey Louvet mitfühlend das zerknautschte Päckchen – | |
| doch die Tochter des Angeklagten schaut sie nur hasserfüllt an, und es | |
| „bleibt wie Schmutz auf dem Pult liegen“. | |
| Über 15 Jahre hinweg hat die Schriftstellerin Yasmina Reza reale Prozesse | |
| in verschiedenen Départements beobachtet – nicht wie ihr Kollege Emmanuel | |
| Carrère, um darüber für Le Nouvel Obs zu berichten und anschließend den | |
| Roman „V13“ daraus zu machen, sondern eher im Sinne von Feldstudien | |
| menschlichen Verhaltens. Berühmt geworden ist die 1959 geborene Tochter | |
| jüdischer Eltern mit iranisch-russisch-ungarischen Wurzeln vor allem durch | |
| ihre Theaterstücke: Die zigfach nachgespielten Boulevarddramen „Kunst“ | |
| (1994) oder „Der Gott des Gemetzels“ (2004) verhandeln Konflikte der | |
| Bourgeoisie, die sich an Fragen der Ästhetik oder Moral entzünden; in ihrem | |
| jüngsten Stück „James Brown trug Lockenwickler“ ringen Eltern mit der | |
| Gender-Selbstbestimmung ihres Kindes, das sich für Céline Dion hält. | |
| ## Blick einer Theaterkritikerin | |
| Gerichtsverhandlungen haben viel mit Theater zu tun, und tatsächlich | |
| erinnert Rezas Blick manchmal an den einer Kritikerin, die Prozesse und | |
| ihre Protagonist:innen wie eine Inszenierung beschreibt und | |
| entschlüsselt. Die kleine Prosaform der „récits des certains faits“ | |
| (Erzählungen bestimmter Ereignisse), wie das von Claudia Hamm übersetzte | |
| „Die Rückseite des Lebens“ im Original heißt, ist schwer einzuordnen, auc… | |
| weil die gerichtlichen Tatbestände und Yasmina Rezas Perspektive immer neue | |
| Mischformen eingehen. Mal kommt ein erzählendes Ich vor, mal nicht. Mal | |
| stehen die Angeklagten im Fokus, mal die Opfer, manchmal auch das | |
| Gerichtspersonal, so die Vorsitzende Richterin im Fall von Hubert | |
| Caouissin, der aufgrund eines eingebildeten Erbschaftsstreits vier | |
| Mitglieder der Familie seiner Frau ermordete und mit ihr gemeinsam in | |
| kleinste Teile zerstückelte. | |
| Die Richterin, schreibt Reza, ist „eine moderne Frau. Sie ist voller | |
| tugendhafter Vorstellungen. Die erste davon ist, dass die Verhandlung in | |
| einer ‚ruhigen und würdevollen Atmosphäre‘ geführt werden muss. […] Ei… | |
| andere Vorstellung, die logische Folge aus der ersten, ist die, dass das | |
| Böse erklärbar ist.“ Reza wird geradezu zur Verteidigerin des ärmlich und | |
| isoliert lebenden Angeklagten, dessen „Gehirn von fixen Ideen besetzt und | |
| in ständigem Aufruhr ist“. Die Vorsitzende Richterin dagegen, die mit | |
| zahllosen Nachfragen Vorsatz nachzuweisen versucht, gerät ihrerseits ins | |
| moralische Kreuzfeuer der Dichterin: „Sie glaubt an Gut und Böse. Sie ist | |
| nur Richterin. Sie hat nicht gelernt, Kategorien hinter sich zu lassen.“ | |
| Während beim geständigen Vierfachmörder die Schuldfrage nicht zu Debatte | |
| steht, sät Reza im Fall des wegen sexueller Übergriffe angeklagten und zu | |
| acht Jahren Haft verurteilten Jack Sion leise Zweifel. Der 66-jährige | |
| Rentner „hat einen krummen Rücken in seinem grauen, zerknitterten, zu | |
| großen Anzug“, anders als auf seinem Dating-Profil, wo er Anthony Laroche | |
| heißt und „achtunddreißig [ist], ein gutaussehendes Mannsbild der | |
| amerikanischen Sorte und Innenarchitekt in Monaco“. Sion hat über App und | |
| Telefon einfühlsame Beziehungen zu zahlreichen Frauen aufgebaut; manche von | |
| ihnen hat er auf deren ausdrücklichen Wunsch in seine Wohnung eingeladen, | |
| wo sie mit verbundenen Augen Sex mit ihm hatten. „Doch als sie die Maske | |
| abnehmen, liegt da ein alter, schmerbäuchiger Jack Sion neben ihnen. […] | |
| Sie fühlen sich ‚betrogen, angeekelt, beschmutzt‘“; zwei haben ihn | |
| angezeigt. | |
| ## Die erlittene Gewalt | |
| Statt über Sion möchte Yasmina Reza lieber „über den Traumprinzen sprechen. | |
| Über den Mann, den es nicht gibt und doch gibt.“ Die Zeuginnen, stellt sie | |
| fest, haben systematisch ihre Zweifel beiseite geschoben. „Es gibt | |
| keinerlei Unterschied zwischen glauben und glauben wollen, so groß ist der | |
| Wunsch nach Liebe.“ Reza verurteilt diesen Liebeswunsch nicht, aber dass er | |
| die Betrogenen buchstäblich geblendet hat, ist leider auch klar. | |
| Es gibt viele weitere Fälle, tieftraurige von überforderten, | |
| alleingelassenen Müttern, deren Taten wie plötzliche Befreiungsschläge | |
| erscheinen, von als Kind Traumatisierten, die die einst erlittene Gewalt | |
| plötzlich nach außen stülpen, aber auch von Promis wie Nicolas Sarkozy oder | |
| Moderator Jean Marc Morandini. Selten braucht Reza mehr als vier bis sechs | |
| Seiten, um ihre Dramen zu umreißen, die sich manchmal in einer Geste, einer | |
| Äußerlichkeit wie einer ungepflegten Frisur, einem Nebensatz zuspitzen. | |
| Doch Yasmina Reza hat diesem Band, der den Gerichtsreporter:innen | |
| Pascale Robert-Diard und Stéphane Durand-Souffland gewidmet ist, noch | |
| andere Kurztexte beigefügt. Miniaturen aus ihrem bourgeoisen Alltag | |
| zwischen Paris und ihrem Zweitwohnsitz Venedig, ähnlich knapp und klar wie | |
| die Prozessberichte. Ein heiterer Text über ihre Enkelin, die sie eine | |
| Nacht lang wachhält, Erinnerungen an verstorbene Freunde wie Bruno Ganz | |
| oder „Imre“ (Kertész), an „Frau Kling“, eine von ihren Schülerinnen | |
| missachtete Lehrerin, der die junge Yasmina ins Gesicht sagt, ihr | |
| Unterricht sei langweilig, und die von da an spurlos von ihrer Schule | |
| verschwindet. Eine Seite über „den Asketen“, einen schönen, verelendenden | |
| Obdachlosen nahe ihrer Pariser Wohnung, an dem sie bei Wind und Wetter | |
| vorbeigeht: „Ich habe oft den Impuls, ihn anzusprechen, aber ich tue es | |
| nicht.“ Reflexionen über Fotografien der Einsamkeit und Leere von Diane | |
| Arbus, die Yasmina Reza mit ihrem eigenen Leben verbindet. | |
| Welchen Zweck verfolgen diese eingestreuten Texte? Sollen sie zeigen, dass | |
| auch die Autorin nicht mit den Kategorien von Gut und Böse zu fassen ist? | |
| Zerstören sie diskret die Illusion, es gäbe irgendeine Instanz, ob | |
| juristisch, göttlich oder eben künstlerisch, die über andere erhaben ist? | |
| Vielleicht ist das auch zu kompliziert gedacht – und es sind einfach | |
| Unterbrechungen, kleine Atempausen in Yasmina Rezas Kunst des Komprimierens | |
| von Unglück. | |
| 29 Mar 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
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