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# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Katja Kollmann: Vom Glück, Teil eines u…
Dass die Sommerzeit immer noch nicht abgeschafft wurde, ist ein Verbrechen
gegen meinen Biorhythmus. Als generell positiv eingestellter Mensch
verdränge ich jeden Winter, dass es so etwas wie die Sommerzeit gibt, und
stehe dann unter Schock, wenn sie wieder da ist. Ich lese also Samstagnacht
Enzensbergers „Hammerstein und der Eigensinn“, als die Zeit zu galoppieren
scheint. Kurt von Hammerstein scheint extrem klug, aber auch ziemlich faul
gewesen zu sein, lese ich über den Reichswehrchef und NS-Gegner. Ich
beschließe: Hammerstein ist heute mein Vorbild. Ich fange mit der Faulheit
an, stemme mich proaktiv gegen die pseudoproduktive Sommerzeit und komme
zum „Jiddish Cabaret-Workshop“ eine Stunde zu spät.
Im Workshop-Raum der Panda Platforma schmeiße ich mich auf das Sofa. Der
Musiker Daniel Kahn steht mit seinem Akkordeon vor einem Laptop, Sängerin
Sarah Gordon sitzt neben ihm. Liedtexte flirren über die Wand. Zwanzig
Leute sprechen Gordon die Texte nach, und dann geht es los mit Singen. Das
Akkordeon nimmt mich mit. Ich beobachte, dass die Lieder augenblicklich
ihre Ferne zu mir überwinden. Drei Mal singen wir das Lied „Friling“,
geschrieben im Wilnaer Ghetto. Es beschreibt die Sehnsucht nach dem
geliebten Menschen, der nicht mehr da ist. Das Lied geht tief rein beim
Singen, sucht sich seinen Ort in mir drin und bleibt.
Ich nehme es aus der Kulturbrauerei mit ins Haus der Berliner Festspiele.
Dort läuft die Maerzmusik mit „I am all ears“ in die Zielgerade ein. Der
zweistündige poetisch-musikalische Parcour verzaubert mich. Toll ist: der
Zuschauer-Mensch darf überall sein! Ich genieße diese Freiheit und stelle
mich erst mal im Saal unter die Tuba, die im ersten Rang im
Scheinwerferlicht tönt. Schnell gehe ich rauf auf die Bühne, denn im
Schnürboden stehen weitere BläserInnen. Und dann ist auf einmal in der
Mitte der Bühne ein Loch, durch das gleichzeitig zehn Leute fallen könnten.
Da wären dann die StreicherInnen, die in der Unterbühne spielen, platt.
Inzwischen läuft Jennifer Torrence auf der Hinterbühne zwischen neun
Glockenblättern umher und bringt sie zum Schwingen. Ihr zuzusehen und den
Glockenklang durch alle Hautmembranen ziehen zu lassen, fühlt sich an wie
Meditation. Und die kommt dann auch am Schluss: Eine Stimme aus dem Off
lädt alle ein: „Atme tief ein und singe einen Ton, singe wieder, indem du
auf den Ton eines anderen reagierst.“ Ein vielschichtiges Summen erfüllt
die Bühne. Es schwillt an und ab, wird höher, tiefer. Nie pendelt es sich
in diesen zehn Minuten irgendwo ein, weil es niemandem gibt, der uns
steuert. Ich stelle beglückt fest, ich bin Teil eines harmonischen
unorganisierten Ganzen und bin trotzdem ganz Individuum, weil ich selbst
entscheiden kann, wo, wann und wie ich summe.
Im Radialsystem kommt das nächste Gemeinschaftserlebnis. In
„Spiegelneuronen“ performt das Publikum sich vor einem Riesenspiegel
selbst. Die sich auf den Sitzen bewegenden ZuschauerInnen werden zu einer
Hände zuckenden Masse. Schräg vor mir schrauben sich zwei Arme in die Höhe.
Die ausdrucksvollen Handmanöver fallen auch im Spiegel auf, und so
dirigieren Sasha Waltz` TänzerInnen inkognito sanft das Publikum. Stefan
Kaegi von Rimini Protokoll will mit dem performenden Publikum das Hirn mit
all seinen Verbindungen darstellen, steht im Programmheft. Mein innerer
Manipulationsalarm lässt mich erstarren. Im Spiegel sehe ich eine
gesichtslose Masse. Das erschreckt mich. Dann klettern die TänzerInnen über
die Sitze.
1 Apr 2025
## AUTOREN
Katja Kollmann
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