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# taz.de -- Deutschlands Umgang mit Kindern und Jugendlichen: Für Aladin El-Ma…
> Deutschlands Politik und Gesellschaft ignorieren Kinder und Jugendliche
> weitgehend. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani sieht jetzt besonders eine
> Generation in der Pflicht, dies zu ändern. Ein Gespräch.
Bild: Sieht Kinder als strukturelle Außenseiter: Aladin El-Mafaalani
[1][taz FUTURZWEI]: Aladin El-Mafaalani, Sie fordern Minderheitenschutz für
Kinder, weil Kinder in dieser Gesellschaft total am Arsch sind, verstehen
wir Sie da richtig?
Aladin El-Mafaalani: So sagen wir das nicht. Wir beschreiben aber, dass
Kinder in einer modernen Gesellschaft strukturelle Außenseiter sind. Das
ist schon lange so, systemtheoretisch würde man sagen, die
gesellschaftlichen Systeme haben sich etabliert, und Kinder kommen darin
nicht vor. Sie sind Randerscheinungen, Kinder sind in Familien oder werden
in Sonderumwelten des Erziehungs- und Bildungssystems ausgelagert. Wir
wollen den Fokus der alternden Gesellschaft auf Kinder richten.
Kinder werden von Politik und Gesellschaft schon lange ignoriert, sagen
Sie. Was ist dann das Neue?
Das Neue ist, dass Kinder eine immer kleiner werdende Gruppe sind und
mittlerweile eine Minderheit. Der Außenseiterstatus, in der Gesellschaft
keinen Platz zu haben, außer in der Familie, und sonst immer nur zu stören,
wird jetzt ergänzt und verstärkt durch die geringe Größe der Gruppe. Man
könnte sagen: Nur weil es so eine kleine Gruppe ist, konnte man während der
Pandemie so harte Maßnahmen durchziehen. Als die Boomer Kinder waren, waren
sie doppelt so viele wie heute, es wäre schon technisch nicht möglich
gewesen, einfach alle Schulen zu schließen und die Kinder zu Hause zu
lassen. Wir können mit harten Fakten belegen, dass Kindheit immer
schwieriger wird und das Interesse dafür sehr gering ist. Die
Bildungsstudien zeigen, dass ein Negativrekord nach dem anderen aufgestellt
wird. Zudem ist das Wohlergehen der Jugendlichen, sind ihre
Gesundheitsbefunde, echt problematisch – und das alles, obwohl die Ausgaben
steigen. Dann kommt hinzu, dass schon bald Rentnerinnen und Rentner eine
Mehrheit bilden und sie die Wahlen entscheiden werden. Früher haben
diejenigen entschieden, die den Laden am Laufen halten. Das sind also auch
demokratietheoretisch bedenkliche Entwicklungen.
Das Interessante ist, dass Sie nicht von den deprivilegierten Kindern
sprechen, sondern von allen, unabhängig vom Elternhaus. Alle werden
diskriminiert?
Das ist eine richtige Beschreibung. Armut ist weiterhin ein
benachteiligender Faktor, aber Kindheit ist unabhängig davon grundsätzlich
schwierig.
Dieses Problem ist doch mit dem klassischen Links-rechts-Denken nicht zu
lösen?
Nein, mit links-rechts hat das meiner Meinung nach wirklich wenig zu tun.
Das ist kulturell herausfordernd, dass Sie Diskriminierung nicht über
Klassen, sondern über Alterskohorten beschreiben.
Ja, das ist ein neues Phänomen. Und dann kommt noch hinzu: Wenn man das
Selbstbild der Bevölkerung anschaut, würde eine überwältigende Mehrheit
sagen, dass Kinder wichtig und toll sind.
Wie begründen Sie denn, dass nicht nur manche, sondern alle benachteiligt
werden, auch die aus den Privatschulen?
Wir haben das im Buch exemplarisch am Geburtsjahrgang 2007 festgemacht, der
dieses Jahr volljährig wird. An diesem Jahrgang kann man erkennen, dass
alle gesellschaftlichen Krisen und Veränderungen in Kindheit und Jugend
klassenunabhängig durchschlagen. Diese Generation hat sehr starke
gemeinsame Erfahrungen gemacht, unabhängig von Ungleichheitsverhältnissen.
Als sie in der Grundschule waren, war die sogenannte Flüchtlingskrise 2015
bis 2016. Die haben sie viel stärker als die Erwachsenen erlebt, weil die
Geflüchteten in den Turnhallen ihrer Schulen untergebracht wurden, weil die
Kinder der Geflüchteten ihre MitschülerInnen wurden und sie von den
Schicksalen viel mehr mitbekommen haben. Sie haben auch mitbekommen, dass
Erwachsene im normalen Alltag keine Orientierung mehr haben und bisweilen
die Fassung verlieren und dass seitdem eine große Polarisierung
stattfindet.
Dann kommen 2018 immerhin Fridays for Future?
Ja, aber diese kurze Zeit erlebten sie nur als Beobachter, sie waren noch
zu jung zum Streiken. Das war Anlass für ein bisschen Optimismus, der aber
bereits 2020 durch die Pandemie erschüttert wird. Vollständiger Lockdown,
nichts funktioniert. Die Institutionen, die vorher gekriselt haben, haben
nun komplette Aussetzer. Der 2007er-Jahrgang ist in der frühen
Teenie-Phase, also einer heiklen Entwicklungsstufe, und bekommt einen
Fullstop verpasst. Dann hört die Pandemie auf und der Ukraine-Krieg
beginnt. Wieder Geflüchtete, wieder volle Schulen, wieder polarisierte
Diskurse, und dazu noch eine Energiekrise. Kinder und Jugendliche haben
viel sensibler darauf reagiert, dass wir im Winter keine Heizung mehr haben
könnten und so weiter und so fort. Hinzu kommt das Sondervermögen
Bundeswehr bis hin zur Wiedereinführung der Wehrpflicht. Auch darauf haben
junge Leute sehr empfindlich reagiert. Dann der Gaza-Krieg, den sie über
TikTok viel direkter verfolgt haben als wir Erwachsenen.
Sie kennen nur Krise?
Im Prinzip kann man sagen: Sie wachsen in einer Gesellschaft auf, in der es
ein Märchen ist, dass Deutschland für Funktionalität, Verlässlichkeit und
Pünktlichkeit steht. Das haben sie nie erlebt. Übrigens auch wichtig: Für
sie ist die AfD eine ganz normale Partei. Sie kennen keine Zeit davor. Auch
nicht vor TikTok, es ist für sie das Gewöhnlichste überhaupt, dass sie sich
dort informieren und von der AfD angesprochen werden. Erwachsene, Eltern
und Lehrkräfte erleben sie regelmäßig als überforderte Menschen, die kaum
Orientierung geben. Und das alles ist unabhängig davon feststellbar, ob die
Kinder in Wohlstand oder in Armut aufwachsen, ob es Jungs oder Mädchen
sind. Und dieser 2007er-Jahrgang wurde 2022 in der PISA-Studie untersucht:
mit den schlechtesten Befunden im Hinblick auf die zentralen
Kompetenzbereiche, die jemals gemessen wurden. Und beim Wahlverhalten sieht
man, dass es sich um eine Entfremdung handelt. Sie wählen von extrem rechts
bis sehr, sehr links vor allem die kleinen Parteien: Volt, die
Tierschutzpartei, Die Partei kommen bei ihnen auf gute Ergebnisse.
Viele Ältere haben diese Jungen erst wahrgenommen, als sie bei der EU-Wahl
verstärkt AfD wählten. Tenor: Hä, was läuft denn bei denen falsch?
Genau. Anstatt zu fragen: Hä, was haben wir eigentlich falsch gemacht? Oder
was haben wir in den vergangenen Jahren übersehen? Erstmal ist es ein
Trugschluss, dass es einen Rechtsruck gab. Klar, CDU und AfD sind auf Platz
eins und zwei. Aber wenn man alle linken Parteien zusammenrechnet, ist es
tendenziell schon links. Nur ist die Bandbreite riesig. Was wir Erwachsenen
unter Sonstige packen, ist bei der jungen Generation 30 Prozent, also der
größte Balken. Und im Übrigen: Was Ende Januar 2025 passiert ist, wird sich
ebenso auf junge Menschen auswirken. Nachdem für sie die AfD faktisch
Normalität ist, wurde diese Partei normativ normalisiert. Dass die
Parteien, die Deutschland länger als jede andere regieren, also CDU/CSU und
FDP, mit der AfD gemeinsame Sache machen, könnte einen großen Impact auf
viele junge Menschen haben. Die weitere Spaltung der Gesellschaft wird noch
eine große Herausforderung für jene, die mit Kindern und Jugendlichen zu
tun haben, seien es Eltern oder Lehrkräfte.
Was schließen Sie daraus?
In einem Satz zusammengefasst: Für sie ist der Ausnahmezustand ein
Normalzustand und deshalb haben sie einen ganz anderen Blick als wir
Erwachsenen. Wir denken immer noch in »Krise«, denn wir haben früher die
Erfahrung von so etwas wie Stabilität gemacht und damit vergleichen wir die
Situation heute. Bei jungen Menschen sind alle Krisen viel stärker und
unmittelbarer eingeschlagen mit bereits jetzt nachhaltig messbaren Folgen.
Das ist aber alles in der öffentlichen Wahrnehmung nicht präsent.
Was kann man denn jetzt besser machen?
Es gibt zwei klare Strategien. Entweder wir sagen jungen Leuten: Ihr hattet
zehn beschissene Jahre, die nächsten zehn werden besser. Ihr müsst jetzt
noch kurz Geduld haben, und danach kümmern wir uns um euch. Das sagt aber
keiner. Die andere Variante ist, ihnen zu sagen: Wir sind uns nicht sicher,
ob es wirklich wieder besser werden wird. Aber wenn wir glauben, es wird
weiterhin sehr angespannt bleiben, dann muss man Kinder und Jugendliche
erst recht ins Zentrum rücken. Dann muss man praktisch überlegen: Wie
können wir die jungen Leute so fit wie möglich machen, um unter schweren,
problematischen Rahmenbedingungen in Zukunft weiter zu agieren? Dazu kommt
auch noch, dass diejenigen, die jetzt gerade im Bildungssystem sind,
potenziell die Jahrhundertwende erleben können. Wir machen gerade ziemlich
viel falsch mit nachhaltigen Auswirkungen.
Das erscheint uns eine deutliche Parallele zu den 1920er-Jahren. Damals
haben die Kids dieselbe Desorientierungserfahrung gemacht. Werte und
Normen, Normalität, alles ist durch den Ersten Weltkrieg komplett gecrasht.
Die Eltern haben jede Glaubwürdigkeit verloren, weil deren Rezepte nicht
mehr funktioniert haben. Dann Hyperinflation, Straßenschlachten,
Wirtschaftskrise, pipapo. Das ist dann die Generation, die ab 1933 eine
historisch katastrophale Entwicklung genommen hat. Was halten Sie von
solchen historischen Vergleichen?
Wir haben uns die Generationen erst ab der Nachkriegszeit des Zweiten
Weltkriegs angeschaut. Aber ja, wir sehen leider viele Parallelen zu der
Zeit vor ziemlich genau hundert Jahren, nicht nur bezogen auf die junge
Generation, bis dahin, dass wir im Jahr '33 wahrscheinlich wieder eine Wahl
haben.
Der Punkt ist dann doch psychologisch betrachtet: Was eine Gesellschaft
oder ein soziales Umfeld leisten muss, ist, Orientierungssicherheit zu
geben. Wenn diese Orientierungssicherheit nicht da ist, sondern nur
Konfusion, dann wird es schwierig.
Ja, und was wir übersehen, ist wirklich diese prägende Kraft der
Orientierungslosigkeit, wenn das in Kindheit und Jugend passiert, dieses
Gefühl, nichts funktioniert richtig. Und kaum jemand hat wirklich die
Zukunft im Blick. Das gesellschaftliche Generationenverhältnis wird von
jungen Menschen als sehr schlecht beschrieben. Aber gleichzeitig ist die
direkte Beziehung zwischen den Generationen erstaunlich gut und sogar so
gut, dass – man mag das kaum glauben – eine große Mehrheit mit ja antworten
würde auf die Frage: Würdest du Kinder in etwa so erziehen, wie du erzogen
wurdest? Das ist tatsächlich der höchste Wert, den man bisher gemessen hat,
und der beste Indikator für eine gute Generationenbeziehung. Auch die Zeit,
die man mit Großeltern verbringt, oder die Häufigkeit der Kommunikation,
auch über Messenger-Dienste, nimmt zu. Die direkten Beziehungen sind gut.
Die gesellschaftlichen Generationenverhältnisse sind prekär.
Das heißt: Dass die Jungen nicht rebellieren, weil Mutti, Vati, Omi und Opi
so dufte sind?
Ja. Es heißt, dass die Jungen bei Befragungen in genauso hoher Zahl gegen
Rentenkürzungen sind, wie die Rentner selbst. Daran sieht man, es wird
keinen direkten oder typischen Generationenkonflikt geben. Der wird sich
anders ausdrücken. Übrigens, wenn weiter gefragt wird: Wie soll das denn
dann finanziert werden? Dann sagen sie: über Steuerzuschuss. Hauptsache, es
gibt keine Altersarmut und die Renten dürfen nicht reduziert werden. Sie
wissen gleichzeitig, dass das für sie von Nachteil ist.
Lassen Sie uns eine wesentliche Erkenntnis vertiefen: Wir und die Kinder
leben in einem jeweils anderen Deutschland. Kann man das so sagen?
Sie wachsen in einem anderen Deutschland auf, als unser Bild von
Deutschland ist. Für sie ist es zum Teil irritierend, was angeblich typisch
deutsche Eigenschaften sind, wenn sie erleben, dass die Dinge nicht
funktionieren. Sie haben nämlich selbst kaum erlebt, dass Dinge verlässlich
und pünktlich beginnen. Die Schule fällt häufig aus oder beginnt später. Es
soll Online-Unterricht geben, aber das interessierte viele Lehrkräfte gar
nicht. Eine Lehrkraft muss zwei Klassen parallel unterrichten und so
weiter. Und das ist der erlebte Normalzustand, Lehrkräfte entschuldigen
sich gar nicht mehr dafür, weil das andauernd passiert. Es entsteht ein
Gefühl, dass das Selbstbild der Gesellschaft und das, was man selbst erlebt
hat, gar nicht mehr zusammenpassen. Für junge Leute ist es ein Running Gag,
dass die Erwachsenen sich verrückt verhalten.
Wie, weil wir so crazy sind, oder was?
Ja, bei TikTok interessieren sie sich für Erwachsene, die die Fassung
verlieren, die Blödsinn erzählen. Covidioten, AfD-Politiker und andere, das
sind alles ziemlich alte Leute, und die machen Sachen, die viel krasser
sind als das, was den meisten jungen Leuten überhaupt einfallen würde. Aber
nochmal: Das betrifft tatsächlich, und ich glaube, das ist neu in der
starken Ausprägung, diese ganze Generation, egal ob sie in Armut oder in
Wohlstand, in der Mittelklasse, im Wedding, in Neukölln oder sonst wo
aufgewachsen sind. Gleichzeitig sehen wir, dass die ohnehin Benachteiligten
durch diesen zusätzlichen Faktor noch stärker benachteiligt werden.
Fridays for Future waren ja im Grunde der Versuch, Dinge neu
durchzubuchstabieren, indem man nämlich eine Alterskohorte zusammengebracht
hat, die sich eben nicht links-rechts definiert, sondern wo junge Leute,
deren Zukunft ignoriert zu werden scheint, fordern, dass Politik für sie
gemacht wird.
Richtig. Aber Sie gehen da so analytisch ran. Für junge Leute war das nicht
so, sondern zum ersten Mal waren junge Menschen in der Öffentlichkeit
präsent, und die Zukunft spielte im Diskurs eine Rolle. Und das hielt nur
sehr kurze Zeit, gefolgt von einer starken Ernüchterung. Wir sind offenbar
ganz schlecht darin, wirklich in die Zukunft zu blicken. In Demokratien ist
es ohnehin schwierig, Demokratien haben einen starken Gegenwartsbezug. Aber
wenn die Bevölkerung immer älter wird, dann wird der Gegenwartsbezug auch
immer stärker. Was bei FFF die Hoffnung gebracht hat, war nicht, dass sich
alle jungen Leute einig waren: Klima ist das wichtigste Thema – sondern
dass alte Leute auf junge Leute, die über die Zukunft reden, reagiert
haben. Das hat auch jungen Hedonisten oder FDP-Wählern Mut gemacht.
Durch Fridays ist eigentlich offensichtlich geworden, dass es nicht darum
geht, das »Klima zu retten«, sondern um eine ordentliche Zukunft unserer
Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Richtig. Aber bisher haben wir das Verfassungsgericht gebraucht, um das der
Politik klarzumachen. Es gibt zwei Bereiche, die junge Leute am stärksten
betreffen oder auch belasten, Klima und Bildung. Bei beiden hat das
Bundesverfassungsgericht, ohne das Wort Minderheit oder Minderheitenschutz
zu nennen, Urteile gesprochen, in denen in der Begründung die Missachtung
der Interessen junger Menschen dargestellt wird, und der Bundesregierung
gesagt, dass es so nicht geht. Dass die Nachteile für eine Gruppe, die sich
jetzt nicht äußern kann, in Zukunft zu groß sind. Es ist peinlich für die
Politik, wenn sie jedes Mal vom Verfassungsgericht hören muss, dass es so
nicht geht. Daraus folgt die Idee, dass ein Minderheitenschutz für Kinder
ins Grundgesetz gehört und dass die junge Generation institutionell
angehört wird. Zukunftsräte müssen etabliert werden, das heißt, dass bei
jedem Gesetz und jedem Beschluss vorher ein Gremium öffentlich angehört
werden muss, das aus Zehn- bis Dreißigjährigen besteht.
Wem ist das eigentlich klar, wie schlimm die Lage ist?
Anders als beim Klima ist noch längst keine kritische Masse von der
Dramatik überzeugt. Wer weiß denn, dass die Bildungsergebnisse so schlecht
sind, wie wir sie bislang noch nie gemessen hatten? Keiner. Wer
interessiert sich dafür, dass das Wohlbefinden von Kindern abnimmt und auch
bestimmte gesundheitliche Aspekte Rückschritte machen? Wir sind gerade da,
wo der Klimadiskurs in den 1970er-, 1980er-Jahren gesteckt hat. Aber das
Krasse ist: Es ist bei beiden schon sehr spät. Wie sollen wir Klimapolitik
in den nächsten Jahrzehnten hinbekommen, wenn die nachwachsende, immer
kleiner werdende Generation dazu nicht befähigt wird? Wir haben wirklich
ein richtig schlimmes Problem. Deswegen sind auch unsere Lösungsansätze so
komplex. Es gibt einen Fachkräftemangel, den können wir auch nicht
auflösen. Selbst mit ein paar Sondervermögen für Kinder müsste man
überlegen, wie man das mit dem Personal regelt. Das ist komplex, aber da
ist noch viel mehr: Man muss das Verhältnis von Familie und Staat umdenken.
Und die Versäulung von Politik. Das fängt schon damit an, dass immer noch
vier bis sechs Ämter in einer Kommune für ein Kind zuständig sind. Und das
alles nicht ineinander verschränkt ist. Das funktioniert für die Kinder
nur, wenn am Ende die Eltern alles regeln können. Aber wenn die Eltern die
Rentenkasse füllen sollen und deshalb beide arbeiten, können sie das nicht
auch noch regeln. Und dann ist da noch etwas: Das Fachkräfteproblem im
pädagogischen Kontext und das Fachkräfteproblem auf dem Arbeitsmarkt
insgesamt ist noch gar nicht angekommen, weil die Boomer noch arbeiten.
Ist das gut?
Nein, es heißt, den Kindern geht es bereits jetzt schlecht, und das, bevor
der demografische Höhepunkt das größte Problem erzeugt. Ich fürchte, das
wird im Krisenmodus gelöst werden müssen.
Sie wollen als Teil der Lösung die Boomer in die Pflicht nehmen.
Sagen wir so: Wir glauben, dass das Seniorenalter anders strukturiert sein
muss. Die 1960er-Geburtsjahrgänge sind allein zehnmal so viele wie alle
Erzieherinnen und alle Grundschullehrkräfte in Deutschland zusammen.
Aber glauben Sie wirklich, dass die Boomer-Rentner auf Kreuzfahrten
verzichten und in den Schulen und Kitas vorlesen oder dass die von ihren
Stimmen abhängigen Parteien das politisch vertreten?
Also, die Boomer leben ja nicht auf einer Insel der Glückseeligen. Nehmen
Sie eine Person, die 66 Jahre alt ist und in Rente geht. Sie weiß, dass es
jetzt schon einen Pflegenotstand gibt und wie der Bundeshaushalt aussieht
und wie viel davon für die Renten ausgegeben wird. Wenn diese Person
erfährt, dass die nachwachsenden Generationen zahlenmäßig zu klein sind und
vielfältige Probleme haben, glaube ich schon, dass es sinnstiftend sein
kann, sich als Rentner zu engagieren. Zumal es von dieser kleinen Gruppe
junger Menschen abhängt, wie gut ich selbst im Alter leben werde, wie die
Wirtschaftskraft sein wird und, und, und.
Die Boomer waren die letzten Kinder, für die richtig Politik gemacht wurde?
Sagen wir so: Die großen Innovationen, von denen durchaus Kinder heute
profitieren, wurden gemacht, als die Babyboomer Kinder und Jugendliche
waren. Weil es so viele waren. Das Bundesjugendkuratorium, ein gesetzlich
verankertes Gremium, das die Bundesregierung beraten muss, wurde als
Reaktion auf die Babyboomer eingeführt. Gewaltfreie Erziehung, die
Expansion des Bildungssystems und eine Liberalisierung der Gesellschaft,
das begann zu dieser Zeit. Deswegen ist meine Generation die
privilegierteste.
Warum jetzt Ihre Generation?
Für die vielen Babyboomer wurde Infrastruktur aufgebaut. Sie haben sie aber
nicht mehr erlebt, wie immer ist alles erst zu spät fertig geworden, da
waren sie schon raus aus dem Alter. Ich bin Ende der Siebziger geboren. Wir
waren schon viel weniger. Ich selbst bin im Ruhrgebiet in aus heutiger
Sicht strukturschwachen Städten aufgewachsen, aber wir wussten gar nicht,
in welchem der vielen Proberäume wir Musik machen sollten, wir wussten gar
nicht, in welches Jugendzentrum wir gehen sollten, so viele Möglichkeiten
hatten wir. Wir waren überversorgt, und das lag daran, dass für die
Babyboomer so viel aufgebaut wurde. Die Infrastruktur wurde dann abgebaut,
also ab den Geburtsjahrgängen Ende der 1980er hatte das zur Folge, dass es
immer weniger Orte und Räume für Kinder gab. Die Eltern übertreiben also
nicht damit, dass sie sich individuell so sehr um die Kinder kümmern, denn
man kann nicht mehr einfach sagen, geh raus und spiel. Die Räume sind nicht
mehr da.
Was passiert, wenn der öffentliche Raum wegfällt?
Es gibt jetzt ein Ausweichmedium für Kinder: Draußen geht es nicht, jetzt
geht es ins Digitale. Und zwar sehr -unkoordiniert. Es ist tragischerweise
so, dass im Digitalen das kompensiert wird, was Kinder im Analogen kaum
noch haben. Mit sehr vielen negativen Kollateralschäden: Zugang zu
Pornografie ist so einfach wie noch nie, Zugang zu Gewaltdarstellungen,
motorische Probleme, wenn man unkontrollierten Medienkonsum hat und, und,
und. Deshalb finde ich, das Schimpfen über Helikoptereltern ist nur dann
gerechtfertigt, wenn man den Stil meint.
Über diesen angeblichen Typus wurden schon Millionen Witze gemacht.
Klar, mein Kind über alles, das gibt es sicher, aber das ist ein krasses
Randphänomen. Das ist statistisch gar nicht darstellbar. Anders ist das mit
Eltern, die merken, wir sind in einer Schieflage, das System funktioniert
gar nicht. Mein Kind hat keine Räume mehr, wo es sich frei bewegen kann.
Ich muss es aber in die Ganztagsschule schicken, weil ich arbeiten muss und
zudem alle anderen Kinder auch dort sind. Es gibt ein zu gering
ausgeprägtes Problembewusstsein, unter welchem Druck Eltern stehen. Was wir
tatsächlich haben, sind sehr besorgte Eltern, die wahrnehmen, dass sie die
Sachen nicht mehr im Griff haben, dass sie selbst auch permanent ein
schlechtes Gewissen haben, weil sie zu wenig Zeit haben, und ansonsten die
Räume und die Institutionen nicht mehr da sind, wie man es bräuchte. Es
sind übrigens vor allem die Eltern, die wissen, wie schlecht die
Bildungsstudien ausfallen. Aber die Eltern von Minderjährigen sind unter
den Erwachsenen halt auch nur eine Minderheit.
🐾 Dieser Artikel erscheint in unserem Magazin [2][taz FUTURZWEI]. Lesen Sie
weiter: Die aktuelle Ausgabe taz FUTURZWEI N°32 mit dem Titelthema „Wozu
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11 Mar 2025
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## AUTOREN
Peter Unfried
Harald Welzer
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