# taz.de -- Deutschlands Umgang mit Kindern und Jugendlichen: Für Aladin El-Ma… | |
> Deutschlands Politik und Gesellschaft ignorieren Kinder und Jugendliche | |
> weitgehend. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani sieht jetzt besonders eine | |
> Generation in der Pflicht, dies zu ändern. Ein Gespräch. | |
Bild: Sieht Kinder als strukturelle Außenseiter: Aladin El-Mafaalani | |
[1][taz FUTURZWEI]: Aladin El-Mafaalani, Sie fordern Minderheitenschutz für | |
Kinder, weil Kinder in dieser Gesellschaft total am Arsch sind, verstehen | |
wir Sie da richtig? | |
Aladin El-Mafaalani: So sagen wir das nicht. Wir beschreiben aber, dass | |
Kinder in einer modernen Gesellschaft strukturelle Außenseiter sind. Das | |
ist schon lange so, systemtheoretisch würde man sagen, die | |
gesellschaftlichen Systeme haben sich etabliert, und Kinder kommen darin | |
nicht vor. Sie sind Randerscheinungen, Kinder sind in Familien oder werden | |
in Sonderumwelten des Erziehungs- und Bildungssystems ausgelagert. Wir | |
wollen den Fokus der alternden Gesellschaft auf Kinder richten. | |
Kinder werden von Politik und Gesellschaft schon lange ignoriert, sagen | |
Sie. Was ist dann das Neue? | |
Das Neue ist, dass Kinder eine immer kleiner werdende Gruppe sind und | |
mittlerweile eine Minderheit. Der Außenseiterstatus, in der Gesellschaft | |
keinen Platz zu haben, außer in der Familie, und sonst immer nur zu stören, | |
wird jetzt ergänzt und verstärkt durch die geringe Größe der Gruppe. Man | |
könnte sagen: Nur weil es so eine kleine Gruppe ist, konnte man während der | |
Pandemie so harte Maßnahmen durchziehen. Als die Boomer Kinder waren, waren | |
sie doppelt so viele wie heute, es wäre schon technisch nicht möglich | |
gewesen, einfach alle Schulen zu schließen und die Kinder zu Hause zu | |
lassen. Wir können mit harten Fakten belegen, dass Kindheit immer | |
schwieriger wird und das Interesse dafür sehr gering ist. Die | |
Bildungsstudien zeigen, dass ein Negativrekord nach dem anderen aufgestellt | |
wird. Zudem ist das Wohlergehen der Jugendlichen, sind ihre | |
Gesundheitsbefunde, echt problematisch – und das alles, obwohl die Ausgaben | |
steigen. Dann kommt hinzu, dass schon bald Rentnerinnen und Rentner eine | |
Mehrheit bilden und sie die Wahlen entscheiden werden. Früher haben | |
diejenigen entschieden, die den Laden am Laufen halten. Das sind also auch | |
demokratietheoretisch bedenkliche Entwicklungen. | |
Das Interessante ist, dass Sie nicht von den deprivilegierten Kindern | |
sprechen, sondern von allen, unabhängig vom Elternhaus. Alle werden | |
diskriminiert? | |
Das ist eine richtige Beschreibung. Armut ist weiterhin ein | |
benachteiligender Faktor, aber Kindheit ist unabhängig davon grundsätzlich | |
schwierig. | |
Dieses Problem ist doch mit dem klassischen Links-rechts-Denken nicht zu | |
lösen? | |
Nein, mit links-rechts hat das meiner Meinung nach wirklich wenig zu tun. | |
Das ist kulturell herausfordernd, dass Sie Diskriminierung nicht über | |
Klassen, sondern über Alterskohorten beschreiben. | |
Ja, das ist ein neues Phänomen. Und dann kommt noch hinzu: Wenn man das | |
Selbstbild der Bevölkerung anschaut, würde eine überwältigende Mehrheit | |
sagen, dass Kinder wichtig und toll sind. | |
Wie begründen Sie denn, dass nicht nur manche, sondern alle benachteiligt | |
werden, auch die aus den Privatschulen? | |
Wir haben das im Buch exemplarisch am Geburtsjahrgang 2007 festgemacht, der | |
dieses Jahr volljährig wird. An diesem Jahrgang kann man erkennen, dass | |
alle gesellschaftlichen Krisen und Veränderungen in Kindheit und Jugend | |
klassenunabhängig durchschlagen. Diese Generation hat sehr starke | |
gemeinsame Erfahrungen gemacht, unabhängig von Ungleichheitsverhältnissen. | |
Als sie in der Grundschule waren, war die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 | |
bis 2016. Die haben sie viel stärker als die Erwachsenen erlebt, weil die | |
Geflüchteten in den Turnhallen ihrer Schulen untergebracht wurden, weil die | |
Kinder der Geflüchteten ihre MitschülerInnen wurden und sie von den | |
Schicksalen viel mehr mitbekommen haben. Sie haben auch mitbekommen, dass | |
Erwachsene im normalen Alltag keine Orientierung mehr haben und bisweilen | |
die Fassung verlieren und dass seitdem eine große Polarisierung | |
stattfindet. | |
Dann kommen 2018 immerhin Fridays for Future? | |
Ja, aber diese kurze Zeit erlebten sie nur als Beobachter, sie waren noch | |
zu jung zum Streiken. Das war Anlass für ein bisschen Optimismus, der aber | |
bereits 2020 durch die Pandemie erschüttert wird. Vollständiger Lockdown, | |
nichts funktioniert. Die Institutionen, die vorher gekriselt haben, haben | |
nun komplette Aussetzer. Der 2007er-Jahrgang ist in der frühen | |
Teenie-Phase, also einer heiklen Entwicklungsstufe, und bekommt einen | |
Fullstop verpasst. Dann hört die Pandemie auf und der Ukraine-Krieg | |
beginnt. Wieder Geflüchtete, wieder volle Schulen, wieder polarisierte | |
Diskurse, und dazu noch eine Energiekrise. Kinder und Jugendliche haben | |
viel sensibler darauf reagiert, dass wir im Winter keine Heizung mehr haben | |
könnten und so weiter und so fort. Hinzu kommt das Sondervermögen | |
Bundeswehr bis hin zur Wiedereinführung der Wehrpflicht. Auch darauf haben | |
junge Leute sehr empfindlich reagiert. Dann der Gaza-Krieg, den sie über | |
TikTok viel direkter verfolgt haben als wir Erwachsenen. | |
Sie kennen nur Krise? | |
Im Prinzip kann man sagen: Sie wachsen in einer Gesellschaft auf, in der es | |
ein Märchen ist, dass Deutschland für Funktionalität, Verlässlichkeit und | |
Pünktlichkeit steht. Das haben sie nie erlebt. Übrigens auch wichtig: Für | |
sie ist die AfD eine ganz normale Partei. Sie kennen keine Zeit davor. Auch | |
nicht vor TikTok, es ist für sie das Gewöhnlichste überhaupt, dass sie sich | |
dort informieren und von der AfD angesprochen werden. Erwachsene, Eltern | |
und Lehrkräfte erleben sie regelmäßig als überforderte Menschen, die kaum | |
Orientierung geben. Und das alles ist unabhängig davon feststellbar, ob die | |
Kinder in Wohlstand oder in Armut aufwachsen, ob es Jungs oder Mädchen | |
sind. Und dieser 2007er-Jahrgang wurde 2022 in der PISA-Studie untersucht: | |
mit den schlechtesten Befunden im Hinblick auf die zentralen | |
Kompetenzbereiche, die jemals gemessen wurden. Und beim Wahlverhalten sieht | |
man, dass es sich um eine Entfremdung handelt. Sie wählen von extrem rechts | |
bis sehr, sehr links vor allem die kleinen Parteien: Volt, die | |
Tierschutzpartei, Die Partei kommen bei ihnen auf gute Ergebnisse. | |
Viele Ältere haben diese Jungen erst wahrgenommen, als sie bei der EU-Wahl | |
verstärkt AfD wählten. Tenor: Hä, was läuft denn bei denen falsch? | |
Genau. Anstatt zu fragen: Hä, was haben wir eigentlich falsch gemacht? Oder | |
was haben wir in den vergangenen Jahren übersehen? Erstmal ist es ein | |
Trugschluss, dass es einen Rechtsruck gab. Klar, CDU und AfD sind auf Platz | |
eins und zwei. Aber wenn man alle linken Parteien zusammenrechnet, ist es | |
tendenziell schon links. Nur ist die Bandbreite riesig. Was wir Erwachsenen | |
unter Sonstige packen, ist bei der jungen Generation 30 Prozent, also der | |
größte Balken. Und im Übrigen: Was Ende Januar 2025 passiert ist, wird sich | |
ebenso auf junge Menschen auswirken. Nachdem für sie die AfD faktisch | |
Normalität ist, wurde diese Partei normativ normalisiert. Dass die | |
Parteien, die Deutschland länger als jede andere regieren, also CDU/CSU und | |
FDP, mit der AfD gemeinsame Sache machen, könnte einen großen Impact auf | |
viele junge Menschen haben. Die weitere Spaltung der Gesellschaft wird noch | |
eine große Herausforderung für jene, die mit Kindern und Jugendlichen zu | |
tun haben, seien es Eltern oder Lehrkräfte. | |
Was schließen Sie daraus? | |
In einem Satz zusammengefasst: Für sie ist der Ausnahmezustand ein | |
Normalzustand und deshalb haben sie einen ganz anderen Blick als wir | |
Erwachsenen. Wir denken immer noch in »Krise«, denn wir haben früher die | |
Erfahrung von so etwas wie Stabilität gemacht und damit vergleichen wir die | |
Situation heute. Bei jungen Menschen sind alle Krisen viel stärker und | |
unmittelbarer eingeschlagen mit bereits jetzt nachhaltig messbaren Folgen. | |
Das ist aber alles in der öffentlichen Wahrnehmung nicht präsent. | |
Was kann man denn jetzt besser machen? | |
Es gibt zwei klare Strategien. Entweder wir sagen jungen Leuten: Ihr hattet | |
zehn beschissene Jahre, die nächsten zehn werden besser. Ihr müsst jetzt | |
noch kurz Geduld haben, und danach kümmern wir uns um euch. Das sagt aber | |
keiner. Die andere Variante ist, ihnen zu sagen: Wir sind uns nicht sicher, | |
ob es wirklich wieder besser werden wird. Aber wenn wir glauben, es wird | |
weiterhin sehr angespannt bleiben, dann muss man Kinder und Jugendliche | |
erst recht ins Zentrum rücken. Dann muss man praktisch überlegen: Wie | |
können wir die jungen Leute so fit wie möglich machen, um unter schweren, | |
problematischen Rahmenbedingungen in Zukunft weiter zu agieren? Dazu kommt | |
auch noch, dass diejenigen, die jetzt gerade im Bildungssystem sind, | |
potenziell die Jahrhundertwende erleben können. Wir machen gerade ziemlich | |
viel falsch mit nachhaltigen Auswirkungen. | |
Das erscheint uns eine deutliche Parallele zu den 1920er-Jahren. Damals | |
haben die Kids dieselbe Desorientierungserfahrung gemacht. Werte und | |
Normen, Normalität, alles ist durch den Ersten Weltkrieg komplett gecrasht. | |
Die Eltern haben jede Glaubwürdigkeit verloren, weil deren Rezepte nicht | |
mehr funktioniert haben. Dann Hyperinflation, Straßenschlachten, | |
Wirtschaftskrise, pipapo. Das ist dann die Generation, die ab 1933 eine | |
historisch katastrophale Entwicklung genommen hat. Was halten Sie von | |
solchen historischen Vergleichen? | |
Wir haben uns die Generationen erst ab der Nachkriegszeit des Zweiten | |
Weltkriegs angeschaut. Aber ja, wir sehen leider viele Parallelen zu der | |
Zeit vor ziemlich genau hundert Jahren, nicht nur bezogen auf die junge | |
Generation, bis dahin, dass wir im Jahr '33 wahrscheinlich wieder eine Wahl | |
haben. | |
Der Punkt ist dann doch psychologisch betrachtet: Was eine Gesellschaft | |
oder ein soziales Umfeld leisten muss, ist, Orientierungssicherheit zu | |
geben. Wenn diese Orientierungssicherheit nicht da ist, sondern nur | |
Konfusion, dann wird es schwierig. | |
Ja, und was wir übersehen, ist wirklich diese prägende Kraft der | |
Orientierungslosigkeit, wenn das in Kindheit und Jugend passiert, dieses | |
Gefühl, nichts funktioniert richtig. Und kaum jemand hat wirklich die | |
Zukunft im Blick. Das gesellschaftliche Generationenverhältnis wird von | |
jungen Menschen als sehr schlecht beschrieben. Aber gleichzeitig ist die | |
direkte Beziehung zwischen den Generationen erstaunlich gut und sogar so | |
gut, dass – man mag das kaum glauben – eine große Mehrheit mit ja antworten | |
würde auf die Frage: Würdest du Kinder in etwa so erziehen, wie du erzogen | |
wurdest? Das ist tatsächlich der höchste Wert, den man bisher gemessen hat, | |
und der beste Indikator für eine gute Generationenbeziehung. Auch die Zeit, | |
die man mit Großeltern verbringt, oder die Häufigkeit der Kommunikation, | |
auch über Messenger-Dienste, nimmt zu. Die direkten Beziehungen sind gut. | |
Die gesellschaftlichen Generationenverhältnisse sind prekär. | |
Das heißt: Dass die Jungen nicht rebellieren, weil Mutti, Vati, Omi und Opi | |
so dufte sind? | |
Ja. Es heißt, dass die Jungen bei Befragungen in genauso hoher Zahl gegen | |
Rentenkürzungen sind, wie die Rentner selbst. Daran sieht man, es wird | |
keinen direkten oder typischen Generationenkonflikt geben. Der wird sich | |
anders ausdrücken. Übrigens, wenn weiter gefragt wird: Wie soll das denn | |
dann finanziert werden? Dann sagen sie: über Steuerzuschuss. Hauptsache, es | |
gibt keine Altersarmut und die Renten dürfen nicht reduziert werden. Sie | |
wissen gleichzeitig, dass das für sie von Nachteil ist. | |
Lassen Sie uns eine wesentliche Erkenntnis vertiefen: Wir und die Kinder | |
leben in einem jeweils anderen Deutschland. Kann man das so sagen? | |
Sie wachsen in einem anderen Deutschland auf, als unser Bild von | |
Deutschland ist. Für sie ist es zum Teil irritierend, was angeblich typisch | |
deutsche Eigenschaften sind, wenn sie erleben, dass die Dinge nicht | |
funktionieren. Sie haben nämlich selbst kaum erlebt, dass Dinge verlässlich | |
und pünktlich beginnen. Die Schule fällt häufig aus oder beginnt später. Es | |
soll Online-Unterricht geben, aber das interessierte viele Lehrkräfte gar | |
nicht. Eine Lehrkraft muss zwei Klassen parallel unterrichten und so | |
weiter. Und das ist der erlebte Normalzustand, Lehrkräfte entschuldigen | |
sich gar nicht mehr dafür, weil das andauernd passiert. Es entsteht ein | |
Gefühl, dass das Selbstbild der Gesellschaft und das, was man selbst erlebt | |
hat, gar nicht mehr zusammenpassen. Für junge Leute ist es ein Running Gag, | |
dass die Erwachsenen sich verrückt verhalten. | |
Wie, weil wir so crazy sind, oder was? | |
Ja, bei TikTok interessieren sie sich für Erwachsene, die die Fassung | |
verlieren, die Blödsinn erzählen. Covidioten, AfD-Politiker und andere, das | |
sind alles ziemlich alte Leute, und die machen Sachen, die viel krasser | |
sind als das, was den meisten jungen Leuten überhaupt einfallen würde. Aber | |
nochmal: Das betrifft tatsächlich, und ich glaube, das ist neu in der | |
starken Ausprägung, diese ganze Generation, egal ob sie in Armut oder in | |
Wohlstand, in der Mittelklasse, im Wedding, in Neukölln oder sonst wo | |
aufgewachsen sind. Gleichzeitig sehen wir, dass die ohnehin Benachteiligten | |
durch diesen zusätzlichen Faktor noch stärker benachteiligt werden. | |
Fridays for Future waren ja im Grunde der Versuch, Dinge neu | |
durchzubuchstabieren, indem man nämlich eine Alterskohorte zusammengebracht | |
hat, die sich eben nicht links-rechts definiert, sondern wo junge Leute, | |
deren Zukunft ignoriert zu werden scheint, fordern, dass Politik für sie | |
gemacht wird. | |
Richtig. Aber Sie gehen da so analytisch ran. Für junge Leute war das nicht | |
so, sondern zum ersten Mal waren junge Menschen in der Öffentlichkeit | |
präsent, und die Zukunft spielte im Diskurs eine Rolle. Und das hielt nur | |
sehr kurze Zeit, gefolgt von einer starken Ernüchterung. Wir sind offenbar | |
ganz schlecht darin, wirklich in die Zukunft zu blicken. In Demokratien ist | |
es ohnehin schwierig, Demokratien haben einen starken Gegenwartsbezug. Aber | |
wenn die Bevölkerung immer älter wird, dann wird der Gegenwartsbezug auch | |
immer stärker. Was bei FFF die Hoffnung gebracht hat, war nicht, dass sich | |
alle jungen Leute einig waren: Klima ist das wichtigste Thema – sondern | |
dass alte Leute auf junge Leute, die über die Zukunft reden, reagiert | |
haben. Das hat auch jungen Hedonisten oder FDP-Wählern Mut gemacht. | |
Durch Fridays ist eigentlich offensichtlich geworden, dass es nicht darum | |
geht, das »Klima zu retten«, sondern um eine ordentliche Zukunft unserer | |
Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. | |
Richtig. Aber bisher haben wir das Verfassungsgericht gebraucht, um das der | |
Politik klarzumachen. Es gibt zwei Bereiche, die junge Leute am stärksten | |
betreffen oder auch belasten, Klima und Bildung. Bei beiden hat das | |
Bundesverfassungsgericht, ohne das Wort Minderheit oder Minderheitenschutz | |
zu nennen, Urteile gesprochen, in denen in der Begründung die Missachtung | |
der Interessen junger Menschen dargestellt wird, und der Bundesregierung | |
gesagt, dass es so nicht geht. Dass die Nachteile für eine Gruppe, die sich | |
jetzt nicht äußern kann, in Zukunft zu groß sind. Es ist peinlich für die | |
Politik, wenn sie jedes Mal vom Verfassungsgericht hören muss, dass es so | |
nicht geht. Daraus folgt die Idee, dass ein Minderheitenschutz für Kinder | |
ins Grundgesetz gehört und dass die junge Generation institutionell | |
angehört wird. Zukunftsräte müssen etabliert werden, das heißt, dass bei | |
jedem Gesetz und jedem Beschluss vorher ein Gremium öffentlich angehört | |
werden muss, das aus Zehn- bis Dreißigjährigen besteht. | |
Wem ist das eigentlich klar, wie schlimm die Lage ist? | |
Anders als beim Klima ist noch längst keine kritische Masse von der | |
Dramatik überzeugt. Wer weiß denn, dass die Bildungsergebnisse so schlecht | |
sind, wie wir sie bislang noch nie gemessen hatten? Keiner. Wer | |
interessiert sich dafür, dass das Wohlbefinden von Kindern abnimmt und auch | |
bestimmte gesundheitliche Aspekte Rückschritte machen? Wir sind gerade da, | |
wo der Klimadiskurs in den 1970er-, 1980er-Jahren gesteckt hat. Aber das | |
Krasse ist: Es ist bei beiden schon sehr spät. Wie sollen wir Klimapolitik | |
in den nächsten Jahrzehnten hinbekommen, wenn die nachwachsende, immer | |
kleiner werdende Generation dazu nicht befähigt wird? Wir haben wirklich | |
ein richtig schlimmes Problem. Deswegen sind auch unsere Lösungsansätze so | |
komplex. Es gibt einen Fachkräftemangel, den können wir auch nicht | |
auflösen. Selbst mit ein paar Sondervermögen für Kinder müsste man | |
überlegen, wie man das mit dem Personal regelt. Das ist komplex, aber da | |
ist noch viel mehr: Man muss das Verhältnis von Familie und Staat umdenken. | |
Und die Versäulung von Politik. Das fängt schon damit an, dass immer noch | |
vier bis sechs Ämter in einer Kommune für ein Kind zuständig sind. Und das | |
alles nicht ineinander verschränkt ist. Das funktioniert für die Kinder | |
nur, wenn am Ende die Eltern alles regeln können. Aber wenn die Eltern die | |
Rentenkasse füllen sollen und deshalb beide arbeiten, können sie das nicht | |
auch noch regeln. Und dann ist da noch etwas: Das Fachkräfteproblem im | |
pädagogischen Kontext und das Fachkräfteproblem auf dem Arbeitsmarkt | |
insgesamt ist noch gar nicht angekommen, weil die Boomer noch arbeiten. | |
Ist das gut? | |
Nein, es heißt, den Kindern geht es bereits jetzt schlecht, und das, bevor | |
der demografische Höhepunkt das größte Problem erzeugt. Ich fürchte, das | |
wird im Krisenmodus gelöst werden müssen. | |
Sie wollen als Teil der Lösung die Boomer in die Pflicht nehmen. | |
Sagen wir so: Wir glauben, dass das Seniorenalter anders strukturiert sein | |
muss. Die 1960er-Geburtsjahrgänge sind allein zehnmal so viele wie alle | |
Erzieherinnen und alle Grundschullehrkräfte in Deutschland zusammen. | |
Aber glauben Sie wirklich, dass die Boomer-Rentner auf Kreuzfahrten | |
verzichten und in den Schulen und Kitas vorlesen oder dass die von ihren | |
Stimmen abhängigen Parteien das politisch vertreten? | |
Also, die Boomer leben ja nicht auf einer Insel der Glückseeligen. Nehmen | |
Sie eine Person, die 66 Jahre alt ist und in Rente geht. Sie weiß, dass es | |
jetzt schon einen Pflegenotstand gibt und wie der Bundeshaushalt aussieht | |
und wie viel davon für die Renten ausgegeben wird. Wenn diese Person | |
erfährt, dass die nachwachsenden Generationen zahlenmäßig zu klein sind und | |
vielfältige Probleme haben, glaube ich schon, dass es sinnstiftend sein | |
kann, sich als Rentner zu engagieren. Zumal es von dieser kleinen Gruppe | |
junger Menschen abhängt, wie gut ich selbst im Alter leben werde, wie die | |
Wirtschaftskraft sein wird und, und, und. | |
Die Boomer waren die letzten Kinder, für die richtig Politik gemacht wurde? | |
Sagen wir so: Die großen Innovationen, von denen durchaus Kinder heute | |
profitieren, wurden gemacht, als die Babyboomer Kinder und Jugendliche | |
waren. Weil es so viele waren. Das Bundesjugendkuratorium, ein gesetzlich | |
verankertes Gremium, das die Bundesregierung beraten muss, wurde als | |
Reaktion auf die Babyboomer eingeführt. Gewaltfreie Erziehung, die | |
Expansion des Bildungssystems und eine Liberalisierung der Gesellschaft, | |
das begann zu dieser Zeit. Deswegen ist meine Generation die | |
privilegierteste. | |
Warum jetzt Ihre Generation? | |
Für die vielen Babyboomer wurde Infrastruktur aufgebaut. Sie haben sie aber | |
nicht mehr erlebt, wie immer ist alles erst zu spät fertig geworden, da | |
waren sie schon raus aus dem Alter. Ich bin Ende der Siebziger geboren. Wir | |
waren schon viel weniger. Ich selbst bin im Ruhrgebiet in aus heutiger | |
Sicht strukturschwachen Städten aufgewachsen, aber wir wussten gar nicht, | |
in welchem der vielen Proberäume wir Musik machen sollten, wir wussten gar | |
nicht, in welches Jugendzentrum wir gehen sollten, so viele Möglichkeiten | |
hatten wir. Wir waren überversorgt, und das lag daran, dass für die | |
Babyboomer so viel aufgebaut wurde. Die Infrastruktur wurde dann abgebaut, | |
also ab den Geburtsjahrgängen Ende der 1980er hatte das zur Folge, dass es | |
immer weniger Orte und Räume für Kinder gab. Die Eltern übertreiben also | |
nicht damit, dass sie sich individuell so sehr um die Kinder kümmern, denn | |
man kann nicht mehr einfach sagen, geh raus und spiel. Die Räume sind nicht | |
mehr da. | |
Was passiert, wenn der öffentliche Raum wegfällt? | |
Es gibt jetzt ein Ausweichmedium für Kinder: Draußen geht es nicht, jetzt | |
geht es ins Digitale. Und zwar sehr -unkoordiniert. Es ist tragischerweise | |
so, dass im Digitalen das kompensiert wird, was Kinder im Analogen kaum | |
noch haben. Mit sehr vielen negativen Kollateralschäden: Zugang zu | |
Pornografie ist so einfach wie noch nie, Zugang zu Gewaltdarstellungen, | |
motorische Probleme, wenn man unkontrollierten Medienkonsum hat und, und, | |
und. Deshalb finde ich, das Schimpfen über Helikoptereltern ist nur dann | |
gerechtfertigt, wenn man den Stil meint. | |
Über diesen angeblichen Typus wurden schon Millionen Witze gemacht. | |
Klar, mein Kind über alles, das gibt es sicher, aber das ist ein krasses | |
Randphänomen. Das ist statistisch gar nicht darstellbar. Anders ist das mit | |
Eltern, die merken, wir sind in einer Schieflage, das System funktioniert | |
gar nicht. Mein Kind hat keine Räume mehr, wo es sich frei bewegen kann. | |
Ich muss es aber in die Ganztagsschule schicken, weil ich arbeiten muss und | |
zudem alle anderen Kinder auch dort sind. Es gibt ein zu gering | |
ausgeprägtes Problembewusstsein, unter welchem Druck Eltern stehen. Was wir | |
tatsächlich haben, sind sehr besorgte Eltern, die wahrnehmen, dass sie die | |
Sachen nicht mehr im Griff haben, dass sie selbst auch permanent ein | |
schlechtes Gewissen haben, weil sie zu wenig Zeit haben, und ansonsten die | |
Räume und die Institutionen nicht mehr da sind, wie man es bräuchte. Es | |
sind übrigens vor allem die Eltern, die wissen, wie schlecht die | |
Bildungsstudien ausfallen. Aber die Eltern von Minderjährigen sind unter | |
den Erwachsenen halt auch nur eine Minderheit. | |
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11 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
Harald Welzer | |
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