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# taz.de -- Viel mehr als eine Unkrautmalerin
> Grethe Jürgens’Retrospektive im Sprengel Museum zeigt Werke von Neuer
> Sachlichkeit über Unkrautmalerei bis zu bunten Abstraktionen. Die
> souveräne und vielseitige, aber unterschätzte Hannoveraner Künstlerin
> prägte Zeichnung, Illustration und Grafik
Bild: Kranke Person und Großstadt statt Landschaft im Fenster: Jürgens‘ „…
Von Bettina Maria Brosowsky
Gelegentlich sah man Werke der Hannoveraner Künstlerin Grethe Jürgens
(1899–1981) im Sprengel Museum: einen mit Farbstift und Kugelschreiber
skizzierten Zeltplatz etwa, 2015 in der kleinen Schau „Auszeit. Vom
Faulenzen und Nichtstun“. Oder ihren farbigen Linolschnitt „Kleine
Gärtnerei“ in „Kunstlandschaft. Naturwelten in der Kunst seit 1950“ im
Sommer 2019.
Eine größere Bühne erhielt Jürgens 2017/18 in „revonnaH. Kunst der
Avantgarde in Hannover 1912–1933“, im Titel angelehnt an Kurt Schwitters
Wortspiel für die Leinemetropole. Man staunte nicht schlecht, in
Jürgens’erstem überliefertem Ölbild, „Krankes Mädchen“ von 1926, zwei
zeittypische Motive in ungewohnter Komposition vereint zu sehen. Da wäre
die kranke Person mit Paradekissen im Sessel, trotz bürgerlichem Status aus
dem Leben entgrenzt. Sie hat offensichtlich gerade Besuch, denn sie hält
zwei orangerote Dahlien, noch im Einwickelpapier. Die Kranke ist an den
linken Bildrand gerückt, eine Schulter scheint fast angeschnitten.
Als zweites Motiv öffnet sich rechts der Blick aus dem Fenster: nicht auf
eine Landschaft, sondern auf die graue Großstadt mit Mansardendächern,
Stromleitungen und einer qualmenden Fabrik. Schnell wurde Jürgens aufgrund
weiterer, ähnlich sozialrealistischer Sujets der Neuen Sachlichkeit
zugerechnet, ein Begriff, den 1925 eine Ausstellung der Mannheimer
Kunsthalle prägte. Zu ihrem 100-jährigen Jubiläum wird sie dort aktuell
einer kritischen Revision unterzogen, besonders in Bezug auf Künstlerinnen:
1925 war keine einzige Frau dabei!
Der Begriff allerdings entfaltete Wirkkraft bis nach Norddeutschland: 1928
und nochmals 1932, im Braunschweiger Herzog Anton Ulrich Museum, fanden
Überblicksausstellungen „Die Neue Sachlichkeit in Hannover“ statt, Grethe
Jürgens nahm teil, zuerst mit vier, dann mit 15 Arbeiten.
Der großen, unterschätzten bis vergessenen Hannoveranerin richtet das
Sprengel Museum nun eine Retrospektive mit 200 Werken aus, die alle
Schaffensphasen würdigt. Möglich wurde sie durch den Nachlass mit 470
Arbeiten, den das Museum bereits 1984 übernahm. Deutlich tritt eine
souverän vielfältige Künstlerin hervor, die sich nicht auf die „Neue
Sachlichkeit“ beschränkt. Beim Gang durch die sechs Ausstellungsräume
erkennt man zudem schnell, dass Jürgens’charakteristische Malerei nur eine
zeitlich befristete Episode blieb, konzentriert auf die Jahre zwischen 1926
und etwa 1931.
In ihrem Selbstverständnis sah sich Jürgens stets als Zeichnerin,
Illustratorin und Grafikerin. Diesen Weg hatte sie schon früh und
konsequent eingeschlagen: Geboren bei Osnabrück, in Wilhelmshaven
aufgewachsen, folgte einem rasch abgebrochenen Architekturstudium, 1918 in
Berlin, von 1919 bis 1922 eine Ausbildung in der Grafikklasse der
Kunstgewerbeschule Hannover, auch mit Zeichenunterricht. Jürgens arbeitete
bis 1929 als angestellte Werbegrafikerin, wagte dann die künstlerische
Selbständigkeit.
## Überwucherte Ruinen
In prekären Zeiten zum Ende der Weimarer Republik sollen Unterstützungen
durch das Arbeitsamt zu ihrem Alltag gehört haben – Erfahrungen, die sie in
leicht düsterer Malerei verarbeitete: Arbeitslose oder das Hannoversche
Amtsgebäude, das nun auch von einer bürgerlichen Klientel frequentiert wird
wie einer Frau mit Kinderwagen.
Die Jahre des NS-Regimes durchlebte Jürgens, „mit harmlosen Pflanzenbildern
und Buchillustrationen“, wie sie 1973 in einem Interview sagte. Aber sie
wählte nicht edle Gewächse, sondern den spontanen Aufwuchs, die unbeachtete
Flora an Wegesrand wie einen Blutweiderich am Kanal, 1941. Sie illustrierte
populärwissenschaftliche Naturstudien, so von ihrem zeitweiligen Verlobten
Gustav Schenk, schuf Titelbilder der Monatsschrift „für Kultur- und
Heimatpflege“ Niedersachsen. Um arbeiten zu können, trat sie der
Reichskunstkammer bei, sie stellte regelmäßig aus, verdiente gut.
Gleichwohl sieht Museumsdirektor Reinhard Spieler sie nicht als
Systemträgerin, vertraut auf die thematische Metaphorik der selbsternannten
„Unkrautmalerin“.
Nach 1945 entfaltet das Werk eine frische, befreite Kraft. Das Unkraut
überwuchert Ruinen, die Farben werden kräftig, moderne Technik hält Einzug:
Aggregate, Rohre, ein kleines Flugzeug. Jürgens experimentiert mit
Mischformen aus Zeichnung, Tempera und Aquarell, per Kugelschreiber ersinnt
sie 1958 eine „Abstrakte Topographie“ und „Die unmögliche Stadt“ aus
Architekturfragmenten. Sie wirft bunte Abstraktionen, mit Binnenzeichnungen
gefüllte Formen auf den Zeichenkarton, einmal wird er gestanzt. Am Ende
strahlt ein kleines rotes Quadrat aus einer strengen Geometrie. Dieses
unbekannte Spätwerk steht nun selbstverständlich neben den prominenten
frühen Arbeiten, in einer unaufgeregten, der Sache verpflichteten
Ausstellung: Museumsarbeit, wie sie sich gehört.
12 May 2025
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
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