# taz.de -- Das menschliche Steinzeithirn | |
> Digitalen Sünden widmet sich eine neue Veranstaltungsreihe von Neuköllner | |
> Oper und Museum für Kommunikation. In der ersten Ausgabe ging es um | |
> Narzissmus | |
Von Katja Kollmann | |
Der Engel der Demut ist im Museum für Kommunikation gelandet. Luzia | |
Labouriau kniet mit ihrer Violine auf dem Steinboden im Lichthof des | |
Museums. Sie legt den Geigenbogen an und schickt Tonkombinationen, die | |
einst Johann Sebastian Bach zu Ehren eines von ihm gepriesenen Gottes | |
niederschrieb, hinauf zur grazilen jungen Frau, die Flügel hat. Zwischen | |
Labouriau und der Skulptur entsteht eine temporäre Symbiose. Bernhard | |
Glocksin führt die Musikerin als Engel der Demut ein, als Gegenkonzept zur | |
selbstreferenziellen Aufmerksamkeitsökonomie des 21. Jahrhunderts. | |
Der künstlerische Leiter der [1][Neuköllner Oper] hat vor fünf Jahren | |
zusammen mit Sabrina Rosetto die Reihe Wunderkammer konzipiert, die sich | |
an wechselnden Orten Berlins an der produktiv-kreativen Verknüpfung von | |
Wissenschaft, Musik und Philosophie versucht hat. Eine Station war damals | |
das Museum für Kommunikation. Das neue Format „Digital Sins“ macht exklusiv | |
an der Leipziger Straße Station, geht es doch um unsere komplexe | |
Wechselbeziehung zur digitalen Welt. Man denkt groß, im Grunde umfassend | |
und vor allem barock. So widmen Glocksin und Rosetto die vier Abende, die | |
sich über das ganze Jahr verteilen, den menschlichen Lastern. Von | |
Narzissmus über Gier bis Lust & Völlerei. | |
Im Treppenhaus schält sich [2][Sigmund Freud] aus einem Sessel, der hinter | |
einer weißen Riesenmaske verborgen ist. In der ersten Digital-Sins-Folge | |
geht es um Narzissmus und da ist der Begründer der Psychoanalyse gefragt. | |
Im Laufe des Abends wird der vermeidliche Sigmund Freud von den | |
Cyber-Partisanen als Spion enttarnt. Nach einer wilden Jagd durchs Haus | |
läuft er (gespielt von Lisa Mader) zu den Partisanen über. Kamil Ahmad und | |
seine Partisanen-Crew sehen aus wie Che-Guevara-Wiedergänger. Sie teilen | |
ihre Erfahrung, nachdem sie sich einen Monat aus der digitalen Welt | |
ausgeklinkt haben. Und sie haben viele Fragen an Julia Baum und Zsuzsa | |
Komaromy vom Institut für Psychologie an der Humboldt-Universität. | |
Generiert wurden Fragen und Internet-Abstinenzerfahrungen im Vorfeld mit | |
Neugierigen, die sich bei der Neuköllner Oper melden konnten. Und jetzt | |
sitzt man in der Wechselausstellung, die dem Thema „Nachrichten“ auf den | |
Grund geht, und es geht darum, herausfinden, woher die Faszination für | |
Verschwörungstheorien kommt. Eine Erklärung ist, dass beim Menschen immer | |
noch automatisch der „Steinzeitreflex“ aktiviert werde, der Gefahr wittert | |
und so dafür empfänglich macht. Catharina Katzer vom Institut für | |
Cyberpsychologie in Köln geht noch weiter und spricht vom menschlichen | |
Steinzeithirn, das dem digitalen Fortschritt um Meilen hinterherhinke. | |
Politikwissenschaftler Simon Hegelich bemerkt, dass die Akklamation, die | |
reine Zustimmung zu einer politischen Führungspersönlichkeit, auf dem | |
Vormarsch sei. Bernhard Glocksin moderiert den Abend, das Überthema | |
Narzissmus – potenziert durch den digitalen Verstärker nicht aus den Augen | |
verlierend. Die individuellen Gedankenspaziergänge, die beim kollektiven | |
Flanieren durchs Museum entstehen, gehen in viele neue Richtungen. Und am | |
Schluss landet man wieder bei Luiza Labouriau, dem Engel der Demut. Noch | |
einmal spielt sie Bach und eine Bach-Variation des belgischen Tonsetzers | |
Eugène Ysaÿe, der in das Werk des Barock-Komponisten Löcher der Stille | |
einfügt. Dann tönt aus Lautsprechern sanft dröhnendes Gewimmer, gehandelt | |
als Johann-Sebastian-Bach-Essenz, wenn man alle Bach’schen Töne | |
zusammenzieht. Oben hält das Wesen noch immer die Fackel hoch. | |
6 Mar 2025 | |
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## AUTOREN | |
Katja Kollmann | |
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