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# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Alissa Geffert: Versuch, einen Mythos zu…
Nach einer längeren Zeit, die ich in Paris verbracht habe, hat mich der
Direktzug gerade wieder ins großzügige Berlin gebracht: Mir fällt gleich
auf, wie weit die Gebäude hier voneinander entfernt wirken. ChatGPT
berechnet mir, dass die Fläche von Paris genau 8,5-mal in die von Berlin
passt.
Am Freitagabend läuft im Theaterdiscounter an der Klosterstraße ein Stück,
das ich unbedingt sehen will – natürlich, weil Paris darin vorkommt.
„Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen“ vom französischen
Experimentalautor Georges Perec. 1974 verbringt Perec drei ganze Tage am
Place Saint-Sulpice und notiert dort minutiös alles, was er um sich herum
beobachtet.
Ich stürme einige Minuten zu spät die Treppen zum Theater hinauf. „Wo
willste denn hin?“, fragt eine Mitarbeiterin mich oben scharf,
„zum,Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen'“, hauche ich komplett außer
Atem zurück. Die Inszenierung ist so schlicht wie ihr Vorhaben: Christian
Fries als Perec will das scheinbar Normale einfangen, das niemand sonst
beschreibt:
Ein, zwei, drei Tauben am Place Saint-Sulpice; die im fünf Minuten Takt
fahrenden Buslinien 63, 70 und 96 nach Saint-Germain-des-Prés; das große M
im Logo des Supermarkts Monoprix …
Am Samstagabend will ich es Georges Perec gleichmachen. Schon oft bin ich
an einem Ort vorbeigegangen, an dem ich es nie in Erwägung gezogen habe
hineinzugehen: Ich unternehme in meiner Nostalgie den Versuch, die
Paris-Bar an der Kantstraße zu erfassen. Die Bar mit dem Mythos, der fast
größer ist als Paris selbst. Um mich dem dortigen Habitus anzupassen, wähle
ich einen Mantel mit sehr viel Fell. Betritt man das Etablissement, so
eröffnet sich vor einem das wuselnde Szenario einer der Pariser
Bouillon-Chartier-Kantinen, abgewandelt mit der direkten Berliner Schnauze
– und mit besserem Essen.
Perec würde nun notieren:
Eine Dame mit schweren Ohrringen schneidet ihr Entrecôte. Ein Kellner
balanciert drei sehr dünn geschnittene Orangenscheiben auf einem kleinen
Teller. Menschen tragen Sonnenbrillen, hinter denen man sie nicht erkennen
soll. Im Kassenhäuschen, an dem man seine Rechnung begleicht, behält eine
Mitarbeiterin die Lage aufmerksam im Blick.
Die Paris-Bar ist ein kulturelles Symbol Westberlins, international
geschätzt. Sie zieht auch heute noch Künstler:innen an – ein Ort, der
durch seine Gäste geprägt wurde und dessen Bedeutung weit über die
Kantstraße in Charlottenburg hinausgeht. Ursprünglich war es die
Westberliner Boheme, heute sind es die „Bobos“ (Bourgeois-Boheme), die dort
ihr Rindertartar verköstigen. Austern gibt es auch. Wer von der Paris-Bar
schwärmt, arbeitet am Mythos mit. Noch in der U-Bahn hatte ich mir, als ich
meinen Gesichtsausdruck in der Spiegelung des Fensters sah, vorgenommen,
mehr Nettigkeit auszustrahlen. Jetzt brauche ich meinen leicht
desinteressierten Berliner Gesichtsausdruck aber wieder, um mich dem Ort
anzupassen. „Gar nicht so ungezwungen hier!“, raunt meine Begleitung mir
zu. Als wir einen der Kellner fragen, wer der Mann mit der schweren
Hornbrille ist, der so groß an der Wand prangt, sagt er lachend: „Das ist
Yves Saint-Laurent!“ Jetzt haben wir uns vollkommen entblößt, da hilft auch
mein Fellmantel nicht mehr.
Mit ihrer Berliner Schnauze stellt die Paris-Bar eine nostalgische
Verbindung zur Vergangenheit dar – zur Westberliner Boheme-Zeit der 80er
Jahre. Sie erinnert mich aber natürlich auch an Perec und an das Paris, das
ich kenne und das ich hier aufsuchen wollte. Noch schöner: Hier befindet
man sich zwischen den Städten, zwischen kollektiven Mythen und jagt
verträumt den Geistern hinterher.
11 Feb 2025
## AUTOREN
Alissa Geffert
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