# taz.de -- orte des wissens: Proteine gegen die Taubheit | |
> Haben seltene Hörstörungen genetische Ursachen? Das erforscht ein | |
> kürzlich in Göttingen gegründetes Institut. Mit Erfolg getestet werden | |
> dort auch neue Behandlungsmethoden | |
Wohl jede(r) hat schon einmal überlegt, was schlimmer sei: Blindheit oder | |
Taubheit. Ob uns dabei bewusst ist, dass unser Hörsinn die | |
differenzierteste Sinneswahrnehmung ist, unsere Ohren viel sensibler, | |
genauer und leistungsfähiger sind als unsere Augen? | |
Nicola Strenzke leitet das Ende 2024 gegründete Zentrum für seltene | |
Hörstörungen an der Universitätsklinik Göttingen. Nach dem Studium an der | |
Medizinischen Hochschule Lübeck spezialisierte sich die | |
Hals-Nasen-Ohren-Ärztin auf das Innenohr. Dort, in der Hörschnecke, der | |
Cochlea, werden die Schallwellen in elektrische Impulse umgewandelt und ans | |
Gehirn weitergeleitet. Und wenn nicht? Strenzke kennt die Zahlen: „Circa | |
eins von 1.000 Neugeborenen in Deutschland wird schwerhörig oder taub | |
geboren. Bei mindestens 60 Prozent dieser Babys liegt mutmaßlich eine | |
genetische Ursache vor. Durch das Neugeborenen-Hörscreening wird eine | |
Schwerhörigkeit früh erkannt, und dank gezielter Diagnostik können wir in | |
circa 80 Prozent der Fälle die krankheitsverursachende genetische | |
Veränderung finden.“ Im Lauf des ersten Lebensjahres verdoppelt sich die | |
Zahl der Fälle. | |
Am Zentrum für seltene Hörstörungen wird die jeweils vorliegende Taubheit | |
bzw. Schwerhörigkeit daraufhin untersucht, wie weit genetische | |
Veränderungen ursächlich sind. „Wir wollen komplexe, bislang nicht gut | |
verstandene Erkrankungen diagnostizieren und behandeln können“, sagt | |
Strenzke. Die Heisenberg-Professorin für experimentelle und klinische | |
Audiologie verbringt deshalb zwei Tage pro Woche an der HNO-Klinik und drei | |
Tage im Labor. Denn am Göttinger Zentrum ist die fachübergreifende, | |
gemeinsame diagnostische Expertise der rund 20 ExpertInnen entscheidend: | |
FachärztInnen der Kinderklinik arbeiten mit denen der Pädaudiologie und der | |
Humangenetik zusammen. | |
„Innenohr-Schwerhörigkeit kommt häufig vor. Wer daran leidet, hat | |
Schwierigkeiten, andere Personen zu verstehen, gerade wenn mehrere Menschen | |
sprechen. Wir interessieren uns vor allem für die seltenen Fälle, bei denen | |
Patienten extrem „verwaschen“ hören, bei denen die Differenzierung von | |
Sprache nicht gelingt, obwohl auch leise Töne und Geräusche wahrgenommen | |
werden“, sagt Strenzke. „Wir wollen herausfinden, welche Gene besonders | |
wichtig für die präzise Kodierung im Hörnerv sind.“ | |
Die Datenbank „Hereditary Hearing Loss“ (https://hereditaryhearingloss.org) | |
listet allein 233 solcher Gene auf. Erst 2017 jedoch wurde die Ursache für | |
seltene, erbliche Schwerhörigkeit entdeckt. Durch Forschung an tauben | |
Mäusen wussten die Forschenden, dass zu wenig Otoferlin das Hören ermüden | |
lässt, und sie stellten durch Versuche fest, dass eine Gentherapie | |
funktionieren kann. | |
Anfang 2024 kam der Durchbruch. Erstmals gelang es, eine bestimmte Form der | |
menschlichen Schwerhörigkeit gentherapeutisch zu behandeln. Nicola Strenzke | |
erläutert: „Dabei wurde mit Viren das Protein Otoferlin ins Innenohr | |
eingeschleust. Vier Wochen später waren die Sinneszellen wieder in der | |
Lage, Signale weiterzugeben, und taub geborene Kinder konnten zum ersten | |
Mal hören. Diese Studien sind ein Meilenstein.“ | |
Bereits im Mutterleib mit der sechsten Schwangerschaftswoche bildet sich | |
unser Hörvermögen aus, und schon wenige Monate nach der Geburt neigt ein | |
Baby den Kopf dorthin, wo es Geräusche wahrnimmt. Helen Keller, die 1968 | |
verstorbene taubblinde US-amerikanische Schriftstellerin, wusste aus | |
eigener Erfahrung: „Blindheit trennt uns von den Dingen, aber Taubheit | |
trennt uns von den Menschen.“ Um so wichtiger ist, was das Göttinger | |
Zentrum für seltene Hörstörungen leistet: Hörerkrankungen mit genetischer | |
Ursache früh zu erkennen und neue therapeutische Wege zu gehen. Frauke | |
Hamann | |
3 Feb 2025 | |
## AUTOREN | |
Frauke Hamann | |
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