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# taz.de -- Aus unserem Magazin für Zukunft: „Leben ist ein riskantes Unterf…
> Wie macht man die Mitte des Lebens zu den besten Jahren eine Menschen,
> Barbara Bleisch? Die Philosophin im taz-FUTURZWEI-Interview über
> Midlife-Crisis und Gemeinsinn.
Bild: „Im Wettbewerb mit anderen zu bestehen, ist auf Dauer kaum erfüllend�…
[1][taz FUTURZWEI]: Liebe Frau Bleisch, alles Gute zum 29. Geburtstag!
Barbara Bleisch: Ja, danke. Sie spielen auf eine Beobachtung in meinem Buch
Mitte des Lebens an: Demnach sind wir definitiv in der Mitte des Lebens
angelangt, wenn die Freunde und Freundinnen einen jünger machen, als man
ist, und das als Kompliment verstehen. Ich fand das immer blöd, wenn einem
jemand zum 29. Geburtstag gratuliert, obwohl man 51 wird.
Niemand möchte wieder ein Kleinkind sein und schon gar niemand alt. Aber 29
scheint ein gewünschtes Alter zu sein?
Es gibt da tatsächlich verschiedene Studien: Die beliebteste Lebensphase
scheint so um die 30 zu liegen: Dem Ärgsten entwachsen, zugleich noch nicht
die volle Ladung an Pflichten. Interessant ist auch, dass vielen die frühen
Erwachsenenjahre zwischen 18 und 30 besonders attraktiv scheinen, weil wir
in dieser Phase besonders viele Erinnerungen abspeichern. Das hat damit zu
tun, dass wir vieles zum ersten Mal erleben, aber doch schon hinreichend
autonom sind. Uns also das, was wir tun, auch zuschreiben können.
Sie definieren die Spanne der Mitte des Lebens freundlicherweise als 40 bis
65.
Ich beziehe mich da auf die Entwicklungspsychologie, und wie immer gilt bei
Lebensphasen: mit ausgefransten Rändern zu beiden Seiten hin. Man könnte
grob sagen, wir stehen in der Mitte des Lebens, wenn wir nicht mehr jung
sind und noch nicht alt. Das betrifft also sehr viele Menschen. Typisch für
diese Phase sind die Suchbewegungen, die oft mit Fragen der Bilanzierung zu
tun haben, weil wir ja schon einen Teil des Lebens hinter uns haben, uns
fragen, was wir geschafft, was verpasst haben – aber auch noch Zeit vor uns
haben, und uns vielleicht zu fragen beginnen: Was will ich denn nun
wirklich von alledem, was ich gemacht habe, weitermachen? Bin ich zufrieden
mit dem Leben, das ich führe? Die Frage wird umso akuter, als vielleicht
auch der Tod näher rückt, weil im Freundeskreis schwere Diagnosen zunehmen
oder die eigenen Eltern sterben.
Was ist denn Ihr persönliches Motiv, sich philosophisch mit diesem Thema zu
beschäftigen?
Ich fand die philosophische Auseinandersetzung immer ertragreicher, wenn
mich die Themen unmittelbar angehen. Da ich selbst in dieser Phase stecke,
interessierte mich, welche philosophischen Gedanken sich dazu formulieren
lassen. Und dann war da auch eine Forschungslücke. Ich habe die letzten
Jahre viel über Familienethik und Kindheit geforscht, Themen, für die sich
die Philosophie in jüngster Zeit stark interessiert hat. Das Alter und der
Tod sind sogar Evergreens in der Philosophie. Über die Mitte des Lebens
schweigt sich die Philosophie dagegen größtenteils aus, bis auf zwei
englischsprachige Titel, Christopher Hamilton und Kieran Setiya. Mich hat
interessiert, warum das so ist – und natürlich auch, ob sich doch etwas
Interessantes über diese Phase sagen lässt.
Die Zwischenbilanz hängt doch auch von der Persönlichkeit und ihrem
zentralen Daseinsthema ab: Friedrich Merz wollte schon immer Kanzler
werden, andere wurden immer ungerecht behandelt, noch andere kommen immer
irgendwie durch. Es gibt verschiedene Theorien über sich selbst, das
betrifft dann doch auch die Bilanz.
Ja, das ist ein guter Punkt. Bin ich eher ein Typ, der sich zum Beispiel
ganz konkrete Lebenspläne gemacht hat. Dann ist die Lebensmitte eher eine
kritische Phase: Entweder stelle ich fest, dass ich das, was ich wollte,
nicht mehr erreiche, weil mir die Zeit davonläuft. Vielleicht macht sich
Frustration breit. Oder ich sage: Prima, das habe ich alles erreicht, Haken
dran. Und was jetzt? Bleibt jetzt nur das »Weiter so«, oder kommt da noch
was? Und warum fühlt sich das, was ich immer wollte, gar nicht so großartig
an? Dann gibt es aber wiederum andere Leute, die haben sich vielleicht gar
keine großen Pläne gemacht. Die Psychologie sagt, dass die in der
Lebensmitte meist eher glücklicher sind.
Eine Perspektive kann auch sein: Ich hätte jetzt mehr Zeit und das Problem
ist: Ich weiß gar nicht, was ich damit neu machen soll. Und dann mache ich
einfach weiter und verpasse den Moment der Bilanzierung und
Neuorientierung, bis ich tot umfalle. Warum ist das so? Oder stimmt das gar
nicht?
Das Interessante ist, dass diejenigen, die den Moment nicht verpassen,
meistens von außen als die Krisengeschüttelten angesehen werde, was ich
genau verkehrt finde. Ich halte das ja für eine große Errungenschaft, dass
unsere Lebensläufe sich massiv pluralisiert und individualisiert haben. Wir
haben kein Recht, über die Lebensvollzüge eines Boomers zu sagen: Guck mal,
der führt sich auf wie ein 30-Jähriger. Ich weiß auch nicht, ob das stimmt,
dass wenige aufbrechen. Einerseits sind in der Mitte des Lebens die meisten
relativ eingebunden in ein Leben, das so vor sich hin trudelt, genau wie
Sie es beschrieben haben. Aber wenn ich in mein Umfeld blicke, dann gibt es
da andererseits viele, die noch einmal aufbrechen, beruflich umsatteln,
umziehen. Auch langjährige Beziehungen, die in die Brüche gehen. Und immer
schwingt die Frage mit: Bin ich bereit, mir aufgebaute Sicherheiten zu
opfern?
Es ist doch eher ungewöhnlich, dass man sagt: So, ich bin jetzt in der
Mitte des Lebens, jetzt mache ich es mal ganz anders. Ich brauche doch
erstmal Kaffee morgens, dann check ich die Mails, dann geh ich in die
Konferenz oder so, dann mosere ich, wie lahm alles ist. Und morgen mach ich
es genauso.
Ja, Bequemlichkeit kann ein Motiv sein, erst mal weiterzumachen wie bisher.
Aber viele kennen doch auch diese Frage: Bin ich in der Lage, mit eigener
Stimme zu sprechen, wie Stanley Cavell gefragt hat, oder gibt es in mir
drin eben Stimmen, die ich nie zu äußern wage? Habe ich den Eindruck, ich
habe was verpasst, und zwar nicht einfach nur die berühmte Weltreise zu
machen oder so etwas, sondern: Habe ich mich verpasst? Solche Fragen,
glaube ich, kennen viele Menschen, und sie sind doch der Stoff vieler
großer Romane und Kinofilme, und meist stehen im Zentrum Mittelalte.
Wie ist das bei Ihnen?
Cavell sagt, es ist eine Lebensaufgabe, mit eigener Stimme sprechen zu
lernen. Insofern kenne ich diese Frage natürlich auch: Bin das ich, ist das
mein Leben, das ich will? Die Frage »War’s das schon?« und das Problem der
Leere sind mir hingegen eher fremd. Ich habe immer eher das Gefühl,
entscheiden zu müssen, was ich weglasse, weil es so viele Dinge gibt, die
ich auch noch gern tun würde. Aber zurück zu den Lebensplänen: Ich finde
interessant zu fragen, ob es eigentlich hilfreich ist, sich welche zu
machen. John Rawls sagt ja in seiner bekannten Theorie der Gerechtigkeit,
dass ein gutes Leben sich gemäß einem vernünftigen, langfristigen Plan
entfaltet. Aber eben: In der Lebensmitte kann sich genau das als Krux
erweisen: Lebenspläne platzen für immer – oder sie erschöpfen sich. Dazu
kommt, dass jene, die stets zielfokussiert leben, sich eine »telische
Lebensweise« angewöhnen, wie das Kieran Setiya nennt: Sie gehen
zielversessen durchs Leben und verpassen es, sich wirklich am Moment zu
freuen.
Das Problem ist, wir müssen unser singuläres Leben kuratieren. Also, das
muss ja alles Bedeutung haben und sich besonders anfühlen. Nicht Museum,
sondern MoMA in New York, nicht einfach essen gehen, sondern dieses ganz
besondere Restaurant, und die Welt retten will ich ja auch noch.
An diesem Kreativitätsimperativ kann man natürlich auch zerbrechen. Dass
wir nicht mehr in Tuchfühlung sind, mit dem, woran uns wirklich liegt,
sondern im Wettbewerb verharren, ein noch genialeres Leben zu inszenieren.
Sinn im Leben resultiert daraus kaum.
Sinn des Lebens?
Eben nicht der Sinn des Lebens, sondern Sinn im Leben: Wie gelingt ein
sinnvolles Leben? Im Wettbewerb mit anderen zu bestehen, ist auf Dauer kaum
erfüllend. Sie haben vorhin gesagt, Sie wollen die Welt retten, das weist
schon eher über Sie hinaus, als im Wettbewerb um den originellsten
Selbstentwurf um sich zu kreisen. Wenn man allerdings so hoch ansetzt, dass
man die Welt retten will, ist das Enttäuschungspotenzial wahrscheinlich
auch wieder relativ groß. Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns die
Welt retten kann. Aber man kann sich fragen: Wie und wo kann ich beitragen
zu einer wertvollen Sache, die mein kleines Leben überdauert? Das entlastet
– und tröstet. Denn in der Mitte des Lebens drängt sich auch die Frage auf:
Gibt es etwas, was uns überdauert? Und damit meine ich ganz dezidiert
nicht: Hinterlasse ich Bücher, die dann noch gelesen werden, wenn ich nicht
mehr da bin?
Sondern?
Ich meine, dass es trostspendend ist, sich vorzustellen, dass es Dinge
gibt, die weitergehen – eine Idee, die sich etwa bei Samuel Scheffler
findet. Teilzuhaben an etwas, was mich übersteigt, temporal, aber auch in
einem ästhetischen Sinn, vielleicht sogar in einem metaphysischen Sinn, ist
für viele Menschen sinnstiftend. Das knüpft sehr schön an die Idee der
Generativität von Erik und Joan Erikson an, dass Menschen in der
Lebensmitte gut daran tun, sich um Dinge zu kümmern, die über sie
hinausweisen und sozusagen Dinge an kommende Generation weiterreichen.
Wenn man Kinder hat, kann man sagen, ich bin fein raus. Ich geb was weiter
und es geht weiter.
Der Sinn im Leben erschöpft sich nicht in moralischen Pflichten, die wir
abhaken müssen. Es geht darum, wie Sie für sich ganz persönlich Ihr Leben
sinnstiftend zubringen. Für viele mögen eigene Kinder eine zentrale
Kategorie in ihrem Leben sein, die sie auch davon befreit, das eigene Leben
sinnlos zu finden. Aber das heißt nicht, dass Menschen, die keine Kinder
haben, nicht generativ tätig sein können. Man kann ja auch im Beruf, in der
Politik, im Sozialengagement etwas weitergeben.
Ein wichtiger Aspekt ist Verantwortung für sich selbst. Aber Verantwortung
ist ja auch etwas, was man nicht unbedingt haben möchte?
Verantwortung ist immer zweischneidig, völlig klar. Wer Verantwortung
trägt, hat Handlungsspielräume, kann entscheiden. Aber gleichzeitig
bedeutet das auch, zur Verantwortung gezogen werden zu können. Freiheit und
Verantwortung bedingen sich immer gegenseitig! Die mittleren Jahre sind
aber nicht nur freie Jahre, weil viele in dieser Zeit Verantwortung
übernehmen können, sondern mehr noch aufgrund der Lebenserfahrung. Wir
denken viel zu wenig darüber nach, worin sie eigentlich besteht und welch
großartiges Gut sie ist. Und wie man sie erlangt! Lebenserfahrung fällt
einem ja nicht einfach in den Schoß. Oft tun wir so, als würde es reichen,
einfach Lebensjahre anzuhäufen. Aber man kann natürlich älter werden und
kindisch bleiben, etwa wenn man sich weigert, sich überhaupt dem Leben
auszusetzen, sich prägen zu lassen und seine Lektionen zu lernen.
Der Kapitalismus ist schuld, die Politik, die Gesellschaft, der Vater, die
Mutter.
Ich kenne leider viele Leute, die sich immer zum Opfer stilisieren und
behaupten, sie hätten dies oder jenes nicht tun können wegen der
Entscheidungen anderer. Verantwortung zu übernehmen fürs eigene Leben ist
nicht für alle gleich einfach, das gestehe ich sofort zu. Biografien
verlaufen unterschiedlich, und nicht alle haben die gleichen Lasten zu
schultern. Und dennoch bleibt uns doch nichts anderes, als Verantwortung
für das eigene Leben zu übernehmen. Denn wenn wir das nicht tun, müssen wir
uns eigentlich als fremdbestimmt beschreiben, und einige mögen dies sein,
aber sicher nicht alle. Wer mir immer den Buckel voll jammert, man merkt
vielleicht schon, ich kann mich da richtig ereifern ...
... merkt man gar nicht ...
... wer sich nur als Opfer sieht und behauptet, nie Glück gehabt zu haben
oder immer schlecht behandelt worden zu sein, wird nie im eigentlichen
Sinne sagen können, er oder sie habe ihr eigenes Leben gelebt. Das ist doch
das Schrecklichste überhaupt: Wenn man irgendwann stirbt und denkt, ich
habe nicht mein Leben gelebt, ich habe mich verpasst, weil ich immer nach
der Pfeife anderer getanzt habe oder Pech hatte im Leben.
Das hat auch eine gesellschaftliche und politische Dimension. Wenn man
Verantwortung immer externalisiert, ist man entlastet, vor allen Dingen von
der Aufgabe, Dinge anders zu machen.
Aber doch nur an der Oberfläche entlastet. Tiefer liegend ist das doch eine
Bankrotterklärung an die eigene Autonomie, wenn man sich weigert, fürs
eigene Leben Verantwortung zu übernehmen. Obwohl mein Buch ja mehr Fragen
skizziert, als eindeutige Antworten gibt, wird es an dieser Stelle klar
normativ. Es gibt philosophisch gesehen durchaus mehr oder weniger
gelungene Weisen, in der Mitte des Lebens zu stehen. Verantwortung zu
übernehmen für das eigene Leben, ist Teil einer gelungenen Lebensmitte.
Sie zeigen, dass die Midlife-Crisis wissenschaftlich gar nicht belegt ist
und man im Grunde dazu neigt, jedem Menschen mittleren Alters, der es wagt,
außerhalb der vorgesehenen Norm zu denken, eine Midlife-Crisis unterstellt.
Ich glaube sogar, dass wir sehr oft Midlife-Crisis fast schon als Chiffre
gebrauchen für abweichendes Verhalten. Manchmal, um es zu entschuldigen,
aber meistens, um Verhalten zu kritisieren, das uns lächerlich oder
peinlich erscheint. Der ältere Mann, der durchbrennt mit einer 20-Jährigen
oder so was.
Das kann nur Midlife- oder Endlife-Crisis sein!
Das ist vor allem zu einfach. Denn die mittlere Lebensphase ist schon für
viele eine Zeit, in der Krisenerfahrungen dazugehören. Beim Übergang ins
Rentenalter oder in der Pubertät gibt es diese aber ebenso oft. Vor allem
aber ist eine Krise philosophisch betrachtet nichts, was wir aus dem Leben
verbannen sollten.
Sondern?
Ich verstehe die Krise im Buch als eine Phase im Leben, in der sich uns
existenzielle Fragen aufdrängen. Sie treiben uns um, und wir merken
gleichzeitig, dass wir einfach nicht mehr wissen, wie es weitergeht. Das
ist gewiss unangenehm, aber philosophisch gesehen oftmals produktiv.
Sie nennen das mit Karl Jaspers Momente der Existenzerhellung.
Ja, weil eben Licht auf das fällt, worum es uns im tiefsten Kern geht. Es
ist im Übrigen eine gänzlich irregeleitete Idee, dass ein geglücktes Leben
ein Leben sei, in dem man immer glücklich ist, im Sinne von »happy«,
zufrieden, satt und fraglos wohlig – das halte ich überhaupt für den
allergrößten Mist, wenn ich das so plakativ sagen darf. Ein menschliches
Leben scheint mir viel eher dann geglückt, wenn es über Tiefe verfügt, und
ein tiefes menschliches Leben ist von allen Schattierungen an Emotionen
geprägt. Natürlich auch von Trauer, Verzweiflung, Schmerz. So sind wir. Und
der Schmerz ist die Kehrseite vieler positiver Gefühle. Wer nicht bereit
ist zu verlieren, zu verzweifeln, der wird auch nicht bereit sein, wirklich
zu lieben. Klingt wahnsinnig banal. Aber ich glaube, das stimmt.
Die Frage ist, ob es stimmt. Leonard Cohen singt in Thanks for the Dance:
»Stop at the surface, the surface is fine. We don’t need to go any deeper.«
Hat er nicht auch recht? Oberflächlichkeit hat ja auch etwas sehr Schönes.
Oh, ja, das mag ich sehr. Cohen ist aber auch der Schöpfer der großartigen
Liedzeile mit dem Crack: »There is a crack in everything.«
»That’s how the light gets in.«
Das ist genau die Verteidigung der Krisenerfahrung. Der Riss ist die
Stelle, an der das Licht eindringt. Aber ich gebe zu, es gibt auch eine
Fetischisierung der Intensität, die auch ich kritisch sehe. Dass man heute
darauf versteift ist, dass alles intensiv, großartig, tief sein muss. Oh my
God, WOW! Nein, muss es nicht. Manchmal ist das Leben sehr alltäglich, sehr
gewöhnlich. Und ich kann dem auch sehr viel abgewinnen. Was ich mit Tiefe
meine, ist nicht, dass jeder Tag tiefgründig sein muss, sondern: Es macht
nichts, wenn wir manchmal tief fallen.
Weil?
Weil es schon auch dazugehört, sich zu riskieren. Leben ist ein riskantes
Unterfangen. Deswegen sind Freunde so wichtig.
Es gibt aber auch Leute, die es richtig aus der Bahn haut. Sie nennen
Tolstoi, der hinter sich ein Leben sieht, für das er sich schämt, vor sich
eins, vor dem er sich ekelt.
Ja, und seine Entlastung folgt wiederum aus der Vorstellung, zu etwas
beizutragen, was größer ist als mein kleines Leben und mein kleines Ego.
Darüber hatten wir schon gesprochen, als es um Generativität ging. Das
befreit ihn davon, immer um sich zu kreisen, dauernd etwas Neues zu finden,
auf das er zusteuern muss, um noch besser, reicher, attraktiver zu werden,
sondern ein Stück weit von sich selbst zurückzutreten.
Viele denken dann: Jetzt auch noch zum Gemeinwohl beitragen? Ich habe echt
genug am Hacken.
Das ist eben gerade nicht als Zusatzaufgabe gemeint, sondern es ist eine
Entlastung. Es muss nicht immer um mich gehen und meinen Lebensentwurf.
Gerade bei den vielen Menschen, die sich nur beklagen, dass sie zu kurz
kommen, denke ich manchmal: Haben diese Menschen Räume, in denen sie den
Eindruck haben, sie werden gebraucht?
Sie liefern im Grunde eine individualpsychologische oder philosophische
Begründung für Gemeinsinn.
Möglicherweise. Wichtig ist mir auf jeden Fall zu betonen, dass Gemeinsinn
eben nicht allein eine moralische Aufgabe ist. Das ist es auch, und zwar im
politischen Sinn; da kann man Böckenförde zitieren, ...
»Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er
selbst nicht garantieren kann.«
... also dass Demokratie nicht funktioniert, wenn die Menschen nicht bereit
sind, sich zu engagieren für den Zusammenhalt. Aber ungeachtet dessen trägt
dieser Beitrag zum großen Ganzen eben auch zu einem eigenen gelingenden
Leben bei.
Sie zitieren im Buch auch die Philosophin Susan Wolf, die sinngemäß sagt:
Ein sinnvolles Leben ist, etwas zu tun, wofür man selbst brennt, und etwas
leisten, was über das eigene Leben hinausweist. Wie sieht das konkret aus?
Susan Wolf wird kaum von Leistung sprechen. Wolf meint das aus der
Innenperspektive: Wie gelingt es mir, ein Leben zu führen, das ich als
sinnerfüllt erlebe? Und sie bringt dies auf die Formel, dass subjektive
Attraktivität auf objektive Attraktivität trifft.
Das heißt?
Das heißt, sich für etwas zu engagieren, das einen leidenschaftlich
erfüllt, das man liebt, und das gleichzeitig etwas ist, was von objektivem
Wert ist. Das kann sein, dass man sich politisch engagiert oder
zivilgesellschaftlich, aber auch in einem Chor zu singen und festzustellen,
dass mein Beitrag, dass mein Gesang, es erst möglich macht, dass dieser
Chor mehrstimmig singen kann. Oder ich engagiere mich, um die Straße zu
begrünen, in der ich wohne. Oder ich engagiere mich für Flüchtlinge.
Es gibt zunehmend auch Leute, die sich in einer rechtspopulistischen
Zivilgesellschaft engagieren. Was für einen Wert messen Sie diesem
Engagement bei?
Die Frage ist: An welchen Welten arbeiten wir mit und bauen wir mit? Ist
das eine Welt von objektivem Wert, wenn man Menschen aussiedeln will, die
in dem Land, in das sie dann geschickt werden, keinen Schutz erhalten
werden, wo ihre Menschenrechte verletzt werden? Da können wir durchaus
kritisch rückfragen: Ist das ein Projekt von objektivem Wert, an dem diese
Menschen mitbauen?
In ihrem Buch zitieren Sie Bertrand Russell, der sagt, drei Dinge hätten
ihn bestimmt: Sehnsucht nach Liebe, Suche nach Wissen und Mitleid mit dem
Leiden der Menschheit. Die ersten beiden sind einfach, aber ist Mitleid mit
dem Leiden der Menschheit wirklich aktivierend oder sagt man das halt so?
Für Russell war das eine treibende Kraft. Russell war ein politischer
Mensch. Er war Pazifist. Er hat sich gegen Atomwaffen eingesetzt. Er hat
sich für die Anerkennung von Homosexuellen ausgesprochen, obwohl ihn das
eine Professur gekostet hat. Er hat etwas riskiert dafür, für ihn war das
ein starker Antrieb. Ich persönlich finde, dass sich die meisten, mich
eingeschlossen, dem Leiden anderer zu sehr verschließen. Empfänglich zu
sein für das Leiden der anderen ist eigentlich Ausdruck von Menschlichkeit.
Das lernt man zum Beispiel bei Simone Weil.
Nun muss man immer sehen: Lebensgestaltung hängt auch von biografischen und
sozialen Möglichkeiten ab.
Absolut richtig. Diese ganzen Fragen, die wir hier erörtern, stellen sich
natürlich nur, wenn wir unser Leben als ein zu gestaltendes verstehen.
Diese Aufgabe kann einen auch erdrücken und überfordern. Und nicht alle
haben die Freiheit, ihr Leben zu gestalten.
Aber?
Einige der angesprochenen Fragen stellen sich auch Menschen, die so ein
Buch wie meines wohl nicht lesen werden, etwa weil sie dafür gar keine
Freiräume haben. Zum Beispiel die Frage, wie wir damit umgehen, dass wir
irgendwann realisieren, dass mehr Zeit hinter uns als vor uns liegt, und
dass wir einsehen müssen, dass gewisse Züge abgefahren sind. Dass wir aber
auch genauer wissen, was wir wollen, weil wir schon mehr vom Leben gesehen
haben. Ganz generell gesprochen, ist heute der Vorwurf schnell im Raum, ein
Buch sei für eine privilegierte Schicht geschrieben. Aber ich halte auch
nicht so viel davon, wenn Menschen, die in privilegierten Schichten leben,
Bücher schreiben für Menschen, die in nicht privilegierten Schichten leben
– als wüssten sie, was diese Menschen wirklich beschäftigt.
■ Dieser Artikel ist im Dezember 2024 im Magazin [2][taz FUTURZWEI]
erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe taz FUTURZWEI N°31 mit
dem Titelthema „Gemeinsinn“ gibt es jetzt [3][im taz Shop].
28 Dec 2024
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## AUTOREN
Harald Welzer
Peter Unfried
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