# taz.de -- Aus unserem Magazin für Zukunft: „Leben ist ein riskantes Unterf… | |
> Wie macht man die Mitte des Lebens zu den besten Jahren eine Menschen, | |
> Barbara Bleisch? Die Philosophin im taz-FUTURZWEI-Interview über | |
> Midlife-Crisis und Gemeinsinn. | |
Bild: „Im Wettbewerb mit anderen zu bestehen, ist auf Dauer kaum erfüllend�… | |
[1][taz FUTURZWEI]: Liebe Frau Bleisch, alles Gute zum 29. Geburtstag! | |
Barbara Bleisch: Ja, danke. Sie spielen auf eine Beobachtung in meinem Buch | |
Mitte des Lebens an: Demnach sind wir definitiv in der Mitte des Lebens | |
angelangt, wenn die Freunde und Freundinnen einen jünger machen, als man | |
ist, und das als Kompliment verstehen. Ich fand das immer blöd, wenn einem | |
jemand zum 29. Geburtstag gratuliert, obwohl man 51 wird. | |
Niemand möchte wieder ein Kleinkind sein und schon gar niemand alt. Aber 29 | |
scheint ein gewünschtes Alter zu sein? | |
Es gibt da tatsächlich verschiedene Studien: Die beliebteste Lebensphase | |
scheint so um die 30 zu liegen: Dem Ärgsten entwachsen, zugleich noch nicht | |
die volle Ladung an Pflichten. Interessant ist auch, dass vielen die frühen | |
Erwachsenenjahre zwischen 18 und 30 besonders attraktiv scheinen, weil wir | |
in dieser Phase besonders viele Erinnerungen abspeichern. Das hat damit zu | |
tun, dass wir vieles zum ersten Mal erleben, aber doch schon hinreichend | |
autonom sind. Uns also das, was wir tun, auch zuschreiben können. | |
Sie definieren die Spanne der Mitte des Lebens freundlicherweise als 40 bis | |
65. | |
Ich beziehe mich da auf die Entwicklungspsychologie, und wie immer gilt bei | |
Lebensphasen: mit ausgefransten Rändern zu beiden Seiten hin. Man könnte | |
grob sagen, wir stehen in der Mitte des Lebens, wenn wir nicht mehr jung | |
sind und noch nicht alt. Das betrifft also sehr viele Menschen. Typisch für | |
diese Phase sind die Suchbewegungen, die oft mit Fragen der Bilanzierung zu | |
tun haben, weil wir ja schon einen Teil des Lebens hinter uns haben, uns | |
fragen, was wir geschafft, was verpasst haben – aber auch noch Zeit vor uns | |
haben, und uns vielleicht zu fragen beginnen: Was will ich denn nun | |
wirklich von alledem, was ich gemacht habe, weitermachen? Bin ich zufrieden | |
mit dem Leben, das ich führe? Die Frage wird umso akuter, als vielleicht | |
auch der Tod näher rückt, weil im Freundeskreis schwere Diagnosen zunehmen | |
oder die eigenen Eltern sterben. | |
Was ist denn Ihr persönliches Motiv, sich philosophisch mit diesem Thema zu | |
beschäftigen? | |
Ich fand die philosophische Auseinandersetzung immer ertragreicher, wenn | |
mich die Themen unmittelbar angehen. Da ich selbst in dieser Phase stecke, | |
interessierte mich, welche philosophischen Gedanken sich dazu formulieren | |
lassen. Und dann war da auch eine Forschungslücke. Ich habe die letzten | |
Jahre viel über Familienethik und Kindheit geforscht, Themen, für die sich | |
die Philosophie in jüngster Zeit stark interessiert hat. Das Alter und der | |
Tod sind sogar Evergreens in der Philosophie. Über die Mitte des Lebens | |
schweigt sich die Philosophie dagegen größtenteils aus, bis auf zwei | |
englischsprachige Titel, Christopher Hamilton und Kieran Setiya. Mich hat | |
interessiert, warum das so ist – und natürlich auch, ob sich doch etwas | |
Interessantes über diese Phase sagen lässt. | |
Die Zwischenbilanz hängt doch auch von der Persönlichkeit und ihrem | |
zentralen Daseinsthema ab: Friedrich Merz wollte schon immer Kanzler | |
werden, andere wurden immer ungerecht behandelt, noch andere kommen immer | |
irgendwie durch. Es gibt verschiedene Theorien über sich selbst, das | |
betrifft dann doch auch die Bilanz. | |
Ja, das ist ein guter Punkt. Bin ich eher ein Typ, der sich zum Beispiel | |
ganz konkrete Lebenspläne gemacht hat. Dann ist die Lebensmitte eher eine | |
kritische Phase: Entweder stelle ich fest, dass ich das, was ich wollte, | |
nicht mehr erreiche, weil mir die Zeit davonläuft. Vielleicht macht sich | |
Frustration breit. Oder ich sage: Prima, das habe ich alles erreicht, Haken | |
dran. Und was jetzt? Bleibt jetzt nur das »Weiter so«, oder kommt da noch | |
was? Und warum fühlt sich das, was ich immer wollte, gar nicht so großartig | |
an? Dann gibt es aber wiederum andere Leute, die haben sich vielleicht gar | |
keine großen Pläne gemacht. Die Psychologie sagt, dass die in der | |
Lebensmitte meist eher glücklicher sind. | |
Eine Perspektive kann auch sein: Ich hätte jetzt mehr Zeit und das Problem | |
ist: Ich weiß gar nicht, was ich damit neu machen soll. Und dann mache ich | |
einfach weiter und verpasse den Moment der Bilanzierung und | |
Neuorientierung, bis ich tot umfalle. Warum ist das so? Oder stimmt das gar | |
nicht? | |
Das Interessante ist, dass diejenigen, die den Moment nicht verpassen, | |
meistens von außen als die Krisengeschüttelten angesehen werde, was ich | |
genau verkehrt finde. Ich halte das ja für eine große Errungenschaft, dass | |
unsere Lebensläufe sich massiv pluralisiert und individualisiert haben. Wir | |
haben kein Recht, über die Lebensvollzüge eines Boomers zu sagen: Guck mal, | |
der führt sich auf wie ein 30-Jähriger. Ich weiß auch nicht, ob das stimmt, | |
dass wenige aufbrechen. Einerseits sind in der Mitte des Lebens die meisten | |
relativ eingebunden in ein Leben, das so vor sich hin trudelt, genau wie | |
Sie es beschrieben haben. Aber wenn ich in mein Umfeld blicke, dann gibt es | |
da andererseits viele, die noch einmal aufbrechen, beruflich umsatteln, | |
umziehen. Auch langjährige Beziehungen, die in die Brüche gehen. Und immer | |
schwingt die Frage mit: Bin ich bereit, mir aufgebaute Sicherheiten zu | |
opfern? | |
Es ist doch eher ungewöhnlich, dass man sagt: So, ich bin jetzt in der | |
Mitte des Lebens, jetzt mache ich es mal ganz anders. Ich brauche doch | |
erstmal Kaffee morgens, dann check ich die Mails, dann geh ich in die | |
Konferenz oder so, dann mosere ich, wie lahm alles ist. Und morgen mach ich | |
es genauso. | |
Ja, Bequemlichkeit kann ein Motiv sein, erst mal weiterzumachen wie bisher. | |
Aber viele kennen doch auch diese Frage: Bin ich in der Lage, mit eigener | |
Stimme zu sprechen, wie Stanley Cavell gefragt hat, oder gibt es in mir | |
drin eben Stimmen, die ich nie zu äußern wage? Habe ich den Eindruck, ich | |
habe was verpasst, und zwar nicht einfach nur die berühmte Weltreise zu | |
machen oder so etwas, sondern: Habe ich mich verpasst? Solche Fragen, | |
glaube ich, kennen viele Menschen, und sie sind doch der Stoff vieler | |
großer Romane und Kinofilme, und meist stehen im Zentrum Mittelalte. | |
Wie ist das bei Ihnen? | |
Cavell sagt, es ist eine Lebensaufgabe, mit eigener Stimme sprechen zu | |
lernen. Insofern kenne ich diese Frage natürlich auch: Bin das ich, ist das | |
mein Leben, das ich will? Die Frage »War’s das schon?« und das Problem der | |
Leere sind mir hingegen eher fremd. Ich habe immer eher das Gefühl, | |
entscheiden zu müssen, was ich weglasse, weil es so viele Dinge gibt, die | |
ich auch noch gern tun würde. Aber zurück zu den Lebensplänen: Ich finde | |
interessant zu fragen, ob es eigentlich hilfreich ist, sich welche zu | |
machen. John Rawls sagt ja in seiner bekannten Theorie der Gerechtigkeit, | |
dass ein gutes Leben sich gemäß einem vernünftigen, langfristigen Plan | |
entfaltet. Aber eben: In der Lebensmitte kann sich genau das als Krux | |
erweisen: Lebenspläne platzen für immer – oder sie erschöpfen sich. Dazu | |
kommt, dass jene, die stets zielfokussiert leben, sich eine »telische | |
Lebensweise« angewöhnen, wie das Kieran Setiya nennt: Sie gehen | |
zielversessen durchs Leben und verpassen es, sich wirklich am Moment zu | |
freuen. | |
Das Problem ist, wir müssen unser singuläres Leben kuratieren. Also, das | |
muss ja alles Bedeutung haben und sich besonders anfühlen. Nicht Museum, | |
sondern MoMA in New York, nicht einfach essen gehen, sondern dieses ganz | |
besondere Restaurant, und die Welt retten will ich ja auch noch. | |
An diesem Kreativitätsimperativ kann man natürlich auch zerbrechen. Dass | |
wir nicht mehr in Tuchfühlung sind, mit dem, woran uns wirklich liegt, | |
sondern im Wettbewerb verharren, ein noch genialeres Leben zu inszenieren. | |
Sinn im Leben resultiert daraus kaum. | |
Sinn des Lebens? | |
Eben nicht der Sinn des Lebens, sondern Sinn im Leben: Wie gelingt ein | |
sinnvolles Leben? Im Wettbewerb mit anderen zu bestehen, ist auf Dauer kaum | |
erfüllend. Sie haben vorhin gesagt, Sie wollen die Welt retten, das weist | |
schon eher über Sie hinaus, als im Wettbewerb um den originellsten | |
Selbstentwurf um sich zu kreisen. Wenn man allerdings so hoch ansetzt, dass | |
man die Welt retten will, ist das Enttäuschungspotenzial wahrscheinlich | |
auch wieder relativ groß. Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns die | |
Welt retten kann. Aber man kann sich fragen: Wie und wo kann ich beitragen | |
zu einer wertvollen Sache, die mein kleines Leben überdauert? Das entlastet | |
– und tröstet. Denn in der Mitte des Lebens drängt sich auch die Frage auf: | |
Gibt es etwas, was uns überdauert? Und damit meine ich ganz dezidiert | |
nicht: Hinterlasse ich Bücher, die dann noch gelesen werden, wenn ich nicht | |
mehr da bin? | |
Sondern? | |
Ich meine, dass es trostspendend ist, sich vorzustellen, dass es Dinge | |
gibt, die weitergehen – eine Idee, die sich etwa bei Samuel Scheffler | |
findet. Teilzuhaben an etwas, was mich übersteigt, temporal, aber auch in | |
einem ästhetischen Sinn, vielleicht sogar in einem metaphysischen Sinn, ist | |
für viele Menschen sinnstiftend. Das knüpft sehr schön an die Idee der | |
Generativität von Erik und Joan Erikson an, dass Menschen in der | |
Lebensmitte gut daran tun, sich um Dinge zu kümmern, die über sie | |
hinausweisen und sozusagen Dinge an kommende Generation weiterreichen. | |
Wenn man Kinder hat, kann man sagen, ich bin fein raus. Ich geb was weiter | |
und es geht weiter. | |
Der Sinn im Leben erschöpft sich nicht in moralischen Pflichten, die wir | |
abhaken müssen. Es geht darum, wie Sie für sich ganz persönlich Ihr Leben | |
sinnstiftend zubringen. Für viele mögen eigene Kinder eine zentrale | |
Kategorie in ihrem Leben sein, die sie auch davon befreit, das eigene Leben | |
sinnlos zu finden. Aber das heißt nicht, dass Menschen, die keine Kinder | |
haben, nicht generativ tätig sein können. Man kann ja auch im Beruf, in der | |
Politik, im Sozialengagement etwas weitergeben. | |
Ein wichtiger Aspekt ist Verantwortung für sich selbst. Aber Verantwortung | |
ist ja auch etwas, was man nicht unbedingt haben möchte? | |
Verantwortung ist immer zweischneidig, völlig klar. Wer Verantwortung | |
trägt, hat Handlungsspielräume, kann entscheiden. Aber gleichzeitig | |
bedeutet das auch, zur Verantwortung gezogen werden zu können. Freiheit und | |
Verantwortung bedingen sich immer gegenseitig! Die mittleren Jahre sind | |
aber nicht nur freie Jahre, weil viele in dieser Zeit Verantwortung | |
übernehmen können, sondern mehr noch aufgrund der Lebenserfahrung. Wir | |
denken viel zu wenig darüber nach, worin sie eigentlich besteht und welch | |
großartiges Gut sie ist. Und wie man sie erlangt! Lebenserfahrung fällt | |
einem ja nicht einfach in den Schoß. Oft tun wir so, als würde es reichen, | |
einfach Lebensjahre anzuhäufen. Aber man kann natürlich älter werden und | |
kindisch bleiben, etwa wenn man sich weigert, sich überhaupt dem Leben | |
auszusetzen, sich prägen zu lassen und seine Lektionen zu lernen. | |
Der Kapitalismus ist schuld, die Politik, die Gesellschaft, der Vater, die | |
Mutter. | |
Ich kenne leider viele Leute, die sich immer zum Opfer stilisieren und | |
behaupten, sie hätten dies oder jenes nicht tun können wegen der | |
Entscheidungen anderer. Verantwortung zu übernehmen fürs eigene Leben ist | |
nicht für alle gleich einfach, das gestehe ich sofort zu. Biografien | |
verlaufen unterschiedlich, und nicht alle haben die gleichen Lasten zu | |
schultern. Und dennoch bleibt uns doch nichts anderes, als Verantwortung | |
für das eigene Leben zu übernehmen. Denn wenn wir das nicht tun, müssen wir | |
uns eigentlich als fremdbestimmt beschreiben, und einige mögen dies sein, | |
aber sicher nicht alle. Wer mir immer den Buckel voll jammert, man merkt | |
vielleicht schon, ich kann mich da richtig ereifern ... | |
... merkt man gar nicht ... | |
... wer sich nur als Opfer sieht und behauptet, nie Glück gehabt zu haben | |
oder immer schlecht behandelt worden zu sein, wird nie im eigentlichen | |
Sinne sagen können, er oder sie habe ihr eigenes Leben gelebt. Das ist doch | |
das Schrecklichste überhaupt: Wenn man irgendwann stirbt und denkt, ich | |
habe nicht mein Leben gelebt, ich habe mich verpasst, weil ich immer nach | |
der Pfeife anderer getanzt habe oder Pech hatte im Leben. | |
Das hat auch eine gesellschaftliche und politische Dimension. Wenn man | |
Verantwortung immer externalisiert, ist man entlastet, vor allen Dingen von | |
der Aufgabe, Dinge anders zu machen. | |
Aber doch nur an der Oberfläche entlastet. Tiefer liegend ist das doch eine | |
Bankrotterklärung an die eigene Autonomie, wenn man sich weigert, fürs | |
eigene Leben Verantwortung zu übernehmen. Obwohl mein Buch ja mehr Fragen | |
skizziert, als eindeutige Antworten gibt, wird es an dieser Stelle klar | |
normativ. Es gibt philosophisch gesehen durchaus mehr oder weniger | |
gelungene Weisen, in der Mitte des Lebens zu stehen. Verantwortung zu | |
übernehmen für das eigene Leben, ist Teil einer gelungenen Lebensmitte. | |
Sie zeigen, dass die Midlife-Crisis wissenschaftlich gar nicht belegt ist | |
und man im Grunde dazu neigt, jedem Menschen mittleren Alters, der es wagt, | |
außerhalb der vorgesehenen Norm zu denken, eine Midlife-Crisis unterstellt. | |
Ich glaube sogar, dass wir sehr oft Midlife-Crisis fast schon als Chiffre | |
gebrauchen für abweichendes Verhalten. Manchmal, um es zu entschuldigen, | |
aber meistens, um Verhalten zu kritisieren, das uns lächerlich oder | |
peinlich erscheint. Der ältere Mann, der durchbrennt mit einer 20-Jährigen | |
oder so was. | |
Das kann nur Midlife- oder Endlife-Crisis sein! | |
Das ist vor allem zu einfach. Denn die mittlere Lebensphase ist schon für | |
viele eine Zeit, in der Krisenerfahrungen dazugehören. Beim Übergang ins | |
Rentenalter oder in der Pubertät gibt es diese aber ebenso oft. Vor allem | |
aber ist eine Krise philosophisch betrachtet nichts, was wir aus dem Leben | |
verbannen sollten. | |
Sondern? | |
Ich verstehe die Krise im Buch als eine Phase im Leben, in der sich uns | |
existenzielle Fragen aufdrängen. Sie treiben uns um, und wir merken | |
gleichzeitig, dass wir einfach nicht mehr wissen, wie es weitergeht. Das | |
ist gewiss unangenehm, aber philosophisch gesehen oftmals produktiv. | |
Sie nennen das mit Karl Jaspers Momente der Existenzerhellung. | |
Ja, weil eben Licht auf das fällt, worum es uns im tiefsten Kern geht. Es | |
ist im Übrigen eine gänzlich irregeleitete Idee, dass ein geglücktes Leben | |
ein Leben sei, in dem man immer glücklich ist, im Sinne von »happy«, | |
zufrieden, satt und fraglos wohlig – das halte ich überhaupt für den | |
allergrößten Mist, wenn ich das so plakativ sagen darf. Ein menschliches | |
Leben scheint mir viel eher dann geglückt, wenn es über Tiefe verfügt, und | |
ein tiefes menschliches Leben ist von allen Schattierungen an Emotionen | |
geprägt. Natürlich auch von Trauer, Verzweiflung, Schmerz. So sind wir. Und | |
der Schmerz ist die Kehrseite vieler positiver Gefühle. Wer nicht bereit | |
ist zu verlieren, zu verzweifeln, der wird auch nicht bereit sein, wirklich | |
zu lieben. Klingt wahnsinnig banal. Aber ich glaube, das stimmt. | |
Die Frage ist, ob es stimmt. Leonard Cohen singt in Thanks for the Dance: | |
»Stop at the surface, the surface is fine. We don’t need to go any deeper.« | |
Hat er nicht auch recht? Oberflächlichkeit hat ja auch etwas sehr Schönes. | |
Oh, ja, das mag ich sehr. Cohen ist aber auch der Schöpfer der großartigen | |
Liedzeile mit dem Crack: »There is a crack in everything.« | |
»That’s how the light gets in.« | |
Das ist genau die Verteidigung der Krisenerfahrung. Der Riss ist die | |
Stelle, an der das Licht eindringt. Aber ich gebe zu, es gibt auch eine | |
Fetischisierung der Intensität, die auch ich kritisch sehe. Dass man heute | |
darauf versteift ist, dass alles intensiv, großartig, tief sein muss. Oh my | |
God, WOW! Nein, muss es nicht. Manchmal ist das Leben sehr alltäglich, sehr | |
gewöhnlich. Und ich kann dem auch sehr viel abgewinnen. Was ich mit Tiefe | |
meine, ist nicht, dass jeder Tag tiefgründig sein muss, sondern: Es macht | |
nichts, wenn wir manchmal tief fallen. | |
Weil? | |
Weil es schon auch dazugehört, sich zu riskieren. Leben ist ein riskantes | |
Unterfangen. Deswegen sind Freunde so wichtig. | |
Es gibt aber auch Leute, die es richtig aus der Bahn haut. Sie nennen | |
Tolstoi, der hinter sich ein Leben sieht, für das er sich schämt, vor sich | |
eins, vor dem er sich ekelt. | |
Ja, und seine Entlastung folgt wiederum aus der Vorstellung, zu etwas | |
beizutragen, was größer ist als mein kleines Leben und mein kleines Ego. | |
Darüber hatten wir schon gesprochen, als es um Generativität ging. Das | |
befreit ihn davon, immer um sich zu kreisen, dauernd etwas Neues zu finden, | |
auf das er zusteuern muss, um noch besser, reicher, attraktiver zu werden, | |
sondern ein Stück weit von sich selbst zurückzutreten. | |
Viele denken dann: Jetzt auch noch zum Gemeinwohl beitragen? Ich habe echt | |
genug am Hacken. | |
Das ist eben gerade nicht als Zusatzaufgabe gemeint, sondern es ist eine | |
Entlastung. Es muss nicht immer um mich gehen und meinen Lebensentwurf. | |
Gerade bei den vielen Menschen, die sich nur beklagen, dass sie zu kurz | |
kommen, denke ich manchmal: Haben diese Menschen Räume, in denen sie den | |
Eindruck haben, sie werden gebraucht? | |
Sie liefern im Grunde eine individualpsychologische oder philosophische | |
Begründung für Gemeinsinn. | |
Möglicherweise. Wichtig ist mir auf jeden Fall zu betonen, dass Gemeinsinn | |
eben nicht allein eine moralische Aufgabe ist. Das ist es auch, und zwar im | |
politischen Sinn; da kann man Böckenförde zitieren, ... | |
»Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er | |
selbst nicht garantieren kann.« | |
... also dass Demokratie nicht funktioniert, wenn die Menschen nicht bereit | |
sind, sich zu engagieren für den Zusammenhalt. Aber ungeachtet dessen trägt | |
dieser Beitrag zum großen Ganzen eben auch zu einem eigenen gelingenden | |
Leben bei. | |
Sie zitieren im Buch auch die Philosophin Susan Wolf, die sinngemäß sagt: | |
Ein sinnvolles Leben ist, etwas zu tun, wofür man selbst brennt, und etwas | |
leisten, was über das eigene Leben hinausweist. Wie sieht das konkret aus? | |
Susan Wolf wird kaum von Leistung sprechen. Wolf meint das aus der | |
Innenperspektive: Wie gelingt es mir, ein Leben zu führen, das ich als | |
sinnerfüllt erlebe? Und sie bringt dies auf die Formel, dass subjektive | |
Attraktivität auf objektive Attraktivität trifft. | |
Das heißt? | |
Das heißt, sich für etwas zu engagieren, das einen leidenschaftlich | |
erfüllt, das man liebt, und das gleichzeitig etwas ist, was von objektivem | |
Wert ist. Das kann sein, dass man sich politisch engagiert oder | |
zivilgesellschaftlich, aber auch in einem Chor zu singen und festzustellen, | |
dass mein Beitrag, dass mein Gesang, es erst möglich macht, dass dieser | |
Chor mehrstimmig singen kann. Oder ich engagiere mich, um die Straße zu | |
begrünen, in der ich wohne. Oder ich engagiere mich für Flüchtlinge. | |
Es gibt zunehmend auch Leute, die sich in einer rechtspopulistischen | |
Zivilgesellschaft engagieren. Was für einen Wert messen Sie diesem | |
Engagement bei? | |
Die Frage ist: An welchen Welten arbeiten wir mit und bauen wir mit? Ist | |
das eine Welt von objektivem Wert, wenn man Menschen aussiedeln will, die | |
in dem Land, in das sie dann geschickt werden, keinen Schutz erhalten | |
werden, wo ihre Menschenrechte verletzt werden? Da können wir durchaus | |
kritisch rückfragen: Ist das ein Projekt von objektivem Wert, an dem diese | |
Menschen mitbauen? | |
In ihrem Buch zitieren Sie Bertrand Russell, der sagt, drei Dinge hätten | |
ihn bestimmt: Sehnsucht nach Liebe, Suche nach Wissen und Mitleid mit dem | |
Leiden der Menschheit. Die ersten beiden sind einfach, aber ist Mitleid mit | |
dem Leiden der Menschheit wirklich aktivierend oder sagt man das halt so? | |
Für Russell war das eine treibende Kraft. Russell war ein politischer | |
Mensch. Er war Pazifist. Er hat sich gegen Atomwaffen eingesetzt. Er hat | |
sich für die Anerkennung von Homosexuellen ausgesprochen, obwohl ihn das | |
eine Professur gekostet hat. Er hat etwas riskiert dafür, für ihn war das | |
ein starker Antrieb. Ich persönlich finde, dass sich die meisten, mich | |
eingeschlossen, dem Leiden anderer zu sehr verschließen. Empfänglich zu | |
sein für das Leiden der anderen ist eigentlich Ausdruck von Menschlichkeit. | |
Das lernt man zum Beispiel bei Simone Weil. | |
Nun muss man immer sehen: Lebensgestaltung hängt auch von biografischen und | |
sozialen Möglichkeiten ab. | |
Absolut richtig. Diese ganzen Fragen, die wir hier erörtern, stellen sich | |
natürlich nur, wenn wir unser Leben als ein zu gestaltendes verstehen. | |
Diese Aufgabe kann einen auch erdrücken und überfordern. Und nicht alle | |
haben die Freiheit, ihr Leben zu gestalten. | |
Aber? | |
Einige der angesprochenen Fragen stellen sich auch Menschen, die so ein | |
Buch wie meines wohl nicht lesen werden, etwa weil sie dafür gar keine | |
Freiräume haben. Zum Beispiel die Frage, wie wir damit umgehen, dass wir | |
irgendwann realisieren, dass mehr Zeit hinter uns als vor uns liegt, und | |
dass wir einsehen müssen, dass gewisse Züge abgefahren sind. Dass wir aber | |
auch genauer wissen, was wir wollen, weil wir schon mehr vom Leben gesehen | |
haben. Ganz generell gesprochen, ist heute der Vorwurf schnell im Raum, ein | |
Buch sei für eine privilegierte Schicht geschrieben. Aber ich halte auch | |
nicht so viel davon, wenn Menschen, die in privilegierten Schichten leben, | |
Bücher schreiben für Menschen, die in nicht privilegierten Schichten leben | |
– als wüssten sie, was diese Menschen wirklich beschäftigt. | |
■ Dieser Artikel ist im Dezember 2024 im Magazin [2][taz FUTURZWEI] | |
erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe taz FUTURZWEI N°31 mit | |
dem Titelthema „Gemeinsinn“ gibt es jetzt [3][im taz Shop]. | |
28 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Harald Welzer | |
Peter Unfried | |
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