# taz.de -- Wie geht Engagement?: Weltretter-Macke | |
> Wenn unser Kolumnist zu Fuß durch Berlin geht, muss er immer drei Stücke | |
> Abfall vom Bürgersteig aufheben und in einen Mülleimer werfen. Es ist wie | |
> ein Zwang. Aber was steckt dahinter? | |
Bild: Unser Autor versucht mit Ritualen gegen das Schlechte in der Welt vorzuge… | |
Der Dreck ist überall, aber damit kann ich umgehen, denke ich und gehe | |
voran. | |
Mein Bruder ist aus Hamburg zu Besuch und wir sind gerade auf dem Weg zu | |
einer Lesung. Auf dem Weg liegen Plastikbecher, Zigarettenschachteln und | |
Chipstüten. | |
“Was machst du da?”, fragt mich mein Bruder, als ich drei von diesen | |
Gegenständen in den Händen halte. “Ach nichts”, sage ich so nervös wie | |
jemand, der im Klassenzimmer beim Spicken erwischt wird und werfe alles | |
eilig in den Mülleimer neben uns. | |
Als wir bei der Lesung sind, fällt mir auf, dass ich diese Aufräumaktionen | |
sonst fast immer unbemerkt erledige. Dafür so gut wie täglich. | |
Mindestens drei Sachen muss ich wegwerfen, auf meinen Wegen zur S-Bahn oder | |
zum Bus. Es ist wie ein Zwang. | |
Nur habe ich mir nie so wirklich Gedanken gemacht, warum das so ist. | |
Dann liest der Autor eine Stelle aus der Sicht eines Depressiven, der sich | |
fragt, wieso manche Menschen ab einem bestimmten Alter freiwillig in der | |
Welt bleiben, da doch alles bergab geht, und ich notiere mir seine Sätze in | |
mein Handy.„Sag mal, ist eigentlich alles okay?”, fragt mich mein Bruder, | |
als wir wieder nach Hause gehen. „Der Typ hat super lustige Sachen gelesen, | |
wieso schreibst du dir ausgerechnet diesen super deprimierenden Teil | |
auf?”„Weil es zum Müllsammeln passt”, sage ich. „Ich will nicht | |
akzeptieren, dass man dem Elend einfach ausgeliefert ist.”„Ach so”, | |
antwortet er. | |
## Hedonismus ausgleichen | |
Okay, eigentlich laufen wir gar nicht. Die Wartezeit auf den Zug erschien | |
uns schrecklich lang. Wie zwei zuckerarm ernährte Kinder auf Klassenfahrt | |
gehen wir in trauter Gemeinschaft jedem Impuls nach, der uns vor Langeweile | |
bewahrt. Also haben wir uns ein Mietauto genommen, da wir ganz schnell | |
fernsehen und Essen bestellen wollen – aus Angst, dass der Weg aus dem | |
Restaurant zurück den Vibe killt. | |
Aber auch wenn ich allein bin, lasse ich mir ziemlich oft Essen liefern und | |
fahre ständig Taxi. Manchmal schäme ich mich dafür und habe dann den Drang, | |
in irgendeiner Form ausgleichend zu handeln. | |
„Hast du Trinkgeld?”, fragt mein Bruder, als ich ihm die Online-Speisekarte | |
vorlese. | |
Ich nicke eifrig, denn das liegt bei mir immer im Flur, damit ich die armen | |
Lieferdienst-Kuriere dafür entschädigen kann, dass sie mich versorgen. Ich | |
denke an meine Freundin Mathilda. Sie hat mir mal erzählt, dass sie ihr | |
schlechtes Gewissen darüber, ihre Wohnung eventuell manchmal zu viel zu | |
heizen, damit beruhigt, vegan zu leben. „Aber ich würde heute doch noch | |
einmal etwas mit Fleisch bestellen”, unterbricht mein Bruder meine | |
Gedanken. „weil, wenn man schon mal bestellt …” | |
„Ja, klar, das kann ich gut verstehen”, antworte ich schnell. | |
## Ist das Gemeinsinn? | |
Am nächsten Morgen gehe ich zum Rewe, Frühstück holen. Regional, vegan – | |
naja, zumindest vegetarisch. | |
Es ist super dreckig und jeden Tag wird es dreckiger. Ichklaube schnell ein | |
Stück Alufolie, eine Styroporpackung und einen Bierdeckel zusammen und | |
werfe ihn in den Müll. Am Kiosk nebenan liegt [1][ein neues taz FUTURZWEI | |
Magazin mit dem Titelthema: Gemeinsinn]. | |
Und ich denke dabei an meinen Urgroßonkel Rudl der auch in einer | |
turbulenten Zeit einen noch akribischeren Helferimpuls verspürt hat. Nach | |
der Wiedervereinigung hat er es sich zur Aufgabe gemacht, dem Elend der | |
streunenden Straßenkatzen in Ostdeutschland ein Ende zu setzen und auf | |
eigene Faust zu helfen. Nur ging es dabei nicht um eine oder zwei, sondern | |
300 Straßenkatzen, die er in den 90ern und aufgrund einer | |
Unterlassungsklage der Stadt Dresden nur nachts fütterte, sich dafür sogar | |
verschuldete und irgendwann mit seiner Frau massenhaft Essen vorkochen | |
musste, weil er sich kein Katzenfutter mehr leisten konnte. | |
Auf meinem Handy trudeln Nachrichten meiner Freund:innen ein, die ich | |
gestern nach etwaigen Müllsammel-Tick-Momenten befragt habe. | |
Gleich mehrere schreiben davon, auch immer Bargeld zur Seite zu legen um es | |
Obdachlosen zu geben, und klar weiß ich von den meisten, dass sie sich auch | |
Demotermine schicken, Petitionen teilen, Spenden – aber hier geht es um die | |
Alltagsmomente. | |
Die, in denen man glaubt, die Welt ganz nach eigener magischer Logik | |
mitzusteuern. | |
Jedenfalls scheint sich keiner von ihnen über mein Anliegen zu wundern. | |
Einer schreibt mir sogar, selbst diesen Drang zu spüren und außerdem in | |
Supermärkten oder Buchläden immer die Regale zu sortieren. | |
Manche wollen auf die Erziehung vonKindern als spontanes Vorbild einwirken, | |
in dem sie vor wirklich jeder roten Ampel stehen bleiben, selbst wenn | |
niemand in der Nähe ist. Auffällig viele schreiben davon,umgeworfene | |
E-Roller aufzuheben oder Mülltonnen an den Straßenrand zu stellen, damit | |
keine Rollstuhlfahrer:innen oder andere Verkehrsteilnehmer:innen darüber | |
stürzen. | |
Zwar sind das alles unterschiedliche Angewohnheiten, denke ich, aber | |
vielleicht geht es bei allen um den Versuch, im Rahmen des Alltags auch | |
etwas für die Gesellschaft zu tun. Als wäre die Welt eine kleine WG-Küche, | |
in der in eigener Kontrolle aufgeräumt und umweltbewusst gekocht werden | |
kann. | |
## Stress der Kühe | |
Natürlich läuft das auf größerer Ebene anders. Man kann nicht alle E-Roller | |
in Berlin ständig sicherheitsgemäß aufstellen und man kann durch das Warten | |
vor einer roten Ampel auch nicht alle Kinder davor bewahren, in ein paar | |
Jahren Nazimusik und Waffen gut zu finden. Und während man seine drei | |
Müllstückchen des Tages aufklaubt, schmeißt irgendwo jemand sein Zeug | |
achtlos auf die Straße oder schießt Raketen auf ein anderes Land, denke ich | |
so vor mich hin, während ich mir vor dem Kühlregal einen möglichst | |
undogmatischen Satz überlege, wieso ich für das Frühstück mit meinem Bruder | |
aus CO2 Emissionsgründen keine Kuhmilch kaufen werde. | |
„Aber du magst die doch“, wird er vielleicht sagen. | |
„Ja, aber du weißt doch, wie klimaschädlich die Rinderzucht ist”, werde i… | |
dann antworten und schon beginnt ein Gespräch, auf das wirklich niemand | |
Lust hat. | |
Aber jetzt mal ausnahmsweise ehrlich: Genau wie beim Müllsammeln geht es | |
mir weniger um eine bessere Welt, in der Kühe weniger Stress haben, als | |
darum, selbst nicht durchzudrehen. | |
## Ordnung im Weltchaos? | |
Vielleicht sind vegane Anteile von Ernährung, Müllaufheben und Roller | |
Aufstellen einfach auch Wege, um Ordnung in das eigene Weltchaos zu | |
bringen. | |
Die Negativreize und die Katastrophenmeldungen, die immer über den guten | |
Nachrichten liegen, können schon dazu führen, dass manche Leute beim Gang | |
durch die Wirren des Alltags ziemlich eigenartig wirken. Denke ich mir so, | |
während ich unter den Mülleimer an der Kreuzung krieche. | |
Schon krass, was manche Menschen so wegwerfen. Auf dem Heimweg begegne ich | |
einem halb aufgegessenen Burger, einem ganzen Apfelkuchen und ernsthaft: | |
einer halbleeren Packung Macarons auf einer Parkbank. Welche Gefühle | |
stecken hinter diesem Müll? Frust, weil der Partner allein nach Paris | |
gefahren ist? Oder ein Date und die plötzliche Verliebtheit, die alles | |
wichtiger erscheinen lässt als aufzuräumen? Keine Ahnung. | |
„Sorry, ich habe keine Kuhmilch gekauft“, rufe ich, als ich in die Küche | |
komme, und stelle die Hafermilch auf den Tisch. | |
„Macht nichts, ich trinke meinen Kaffee eh nur noch schwarz“, antwortet | |
mein Bruder und lächelt mich an. „Bekommt mir einfach besser.“ | |
12 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Aron Boks | |
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