# taz.de -- Harald Welzer in der taz FUTURZWEI: Gemeinsinn ist geil | |
> Der radikal einsame Mensch unserer Zeit ist nicht nur für die haltlose | |
> Wachstumswirtschaft ein idealer Kunde, sondern auch für den Faschismus. | |
> Das Einzige, was beidem Widerstand entgegensetzt, ist Gemeinsinn. | |
Bild: Der Phänotyp des Antisozialen ist der an Gemeinsinn und Gemeinwohl völl… | |
[1][taz FUTURZWEI] | Es gibt so unbestimmte atmosphärische Veränderungen in | |
der Gesellschaft, die einem erst gar nicht oder nur als kleines Störgefühl | |
auffallen, sich aber über kurz oder lang als Verschiebung, sagen wir: der | |
kulturellen Tonalität in den Vordergrund drängen. Vielleicht fing alles mit | |
Harald Schmidt auf der einen und „Geiz ist geil“ auf der anderen Ebene an, | |
und seither behelligen uns zum Beispiel diese ganz und gar unsympathischen | |
Typen von CHECK24, die in Habitus, Aussehen, Stimme und Aufdringlichkeit | |
das Produkt selbst, das aus Knickrigkeit besteht, verkörpern. | |
Werbetechnisch nachvollziehbar, aber würde man diese präpotenten Leute gern | |
im Großraumwaggon der Deutschen Bahn haben? Oder diese Frau, die werblich | |
in einer ganz merkwürdig nölig-dringlichen Stimme „Lidl lohnt sich“ sagt? | |
Man kann auch, wenn man gar nichts Besseres zu tun hat, Olympia gucken und | |
sich anschauen, wie man sich heute freut – mit Fäusten, superaggressiv und | |
komplett exaltiert. Dazu kommen phänomenal antisoziale Heroen der | |
Kulturepoche wie die libertären Fantastilliardäre Bezos, Musk oder Thiel | |
oder in Provinzfassung diese „Höhle der Löwen“-Menschen. Die Strombergs | |
dieser Welt, Carsten Linnemann, Jan Böhmermann, Sophie Passmann, Carolin | |
Kebekus – sämtlich Leute, die ihren matten Glanz der Schamlosigkeit | |
verdanken, sich auf Kosten anderer zu profilieren. | |
Die kulturelle Tonalität des Antisozialen. | |
## Die Phänotypen des Antisozialen entspringen dem Geschäftsmodell des | |
digitalen Kapitalismus | |
Der Filmregisseur Werner Herzog hat in einer frühen Talkshow Ralf Moeller, | |
seines Zeichens Mister Universum des Jahres 1985, darüber aufgeklärt, dass | |
dessen Körper ohne die Superman- und Marvel-Comics der 1950er- und | |
1960er-Jahre gar nicht existieren würde – Moeller also selbst ein | |
Medienprodukt sei. Das hat Moeller nicht verstanden, schließlich hatte er | |
hart dafür gepumpt, Mister Universum zu werden, aber im selben Sinn | |
scheinen mir die Akteure des Antisozialen ebenfalls Medienprodukte zu sein. | |
Nur sind die nicht Comics und Fantasy entsprungen, sondern der | |
Dauererregungs-, Hass- und Mobbing-Kultur der Direktmedien und | |
gewissermaßen von den Displays in die Studios, in die Digitalwirtschaft und | |
in die Parlamente geschlüpft, um dort die Welt schlechter zu machen, als | |
sie ohne sie sein könnte. | |
Die Phänotypen des Antisozialen entspringen dem Geschäftsmodell des | |
digitalen Kapitalismus. | |
Der hat es geschafft, das Menschenbild des Neoliberalismus radikal zu | |
verallgemeinern, sodass der an Gemeinwohl und Gemeinsinn völlig | |
desinteressierte Maximierer des individuellen Nutzens zu einem Sozialtypus | |
geworden ist, der ideal den Interessen der Anbieter entgegenkommt. Denn um | |
jedes Bedürfnis als eigenes zu interpretieren, dass ihm die Anbieter von | |
Services, Klamotten, Gadgets, Erlebnissen und Dingen überhaupt andrehen, | |
muss ein Mensch ja zunächst mal von zwei Merkmalen befreit sein: erstens | |
davon, ein soziales Umfeld zu haben, in dem er nicht allein ist. Und | |
zweitens davon, autonom urteilsfähig zu sein. Erst wenn beides der Fall | |
ist, wird man jenes leere Bedürfnisbehältnis sein, in das alles | |
hineingegossen werden kann, was eine haltlose Wachstumswirtschaft sich als | |
jeweils Nächstes ausdenkt. Anders gesagt: Man muss einsam sein, um in der | |
Hyperkonsumkultur perfekt zu funktionieren und am Ende einen Kühlschrank | |
haben zu wollen, der seinen Inhalt überwacht und selbst bestellt, was | |
seinem Urteil nach fehlt. | |
Und jetzt kommt es aber: Dieses radikal einsame Individuum, das seine | |
Urteilsfähigkeit an eine Smartwatch oder an einen Kühlschrank abgegeben | |
hat, ist nicht nur für den Handel spitze, sondern auch für den Faschismus. | |
Denn der braucht bekanntlich das verlassene menschliche Atom der | |
Massengesellschaft, das sich so existenziell gern an etwas binden möchte. | |
Vor dem Vergemeinschaftungsangebot des rechtsextremen oder faschistischen | |
Populismus steht zunächst einmal die Herstellung von Einsamkeit, und | |
deshalb funktioniert der Aufstieg des Populismus so reibungslos. Wir sehen | |
gewissermaßen eine Wahlverwandtschaft zwischen den | |
Entmündigungsbedürfnissen einer haltlosen Wachstumswirtschaft und den | |
emotionalen Angeboten populistischer Politik. | |
Das Einzige, was beidem Widerstand entgegensetzt, ist Gemeinsinn. | |
## Der Mensch ist ein soziales Wesen | |
Gemeinsinn ist das, was über die eigene kleine Existenz, den eigenen | |
Horizont, die eigenen Möglichkeiten hinausreicht und darauf basiert, dass | |
man als soziales Wesen Teil vieler gegebener und möglicher Beziehungen und | |
Bündnisse mit anderen Menschen ist. | |
Anthropologisch betrachtet ist das nichts, was man herstellen oder gar | |
erfinden müsste: Denn die menschliche Lebensform ist schon deshalb eine | |
durch und durch soziale, weil jedes Neugeborene auf das Zusammensein mit | |
anderen angewiesen ist, um überleben und sich entwickeln zu können. | |
Menschen gibt es nicht im Singular; sie kommen im Unterschied zu anderen | |
Säugetieren besonders auch hinsichtlich ihrer Hirnentwicklung extrem | |
unfertig auf die Welt. Ihr Gehirn entwickelt sich sowohl anatomisch als | |
auch in seiner Verschaltungsarchitektur spezifisch ja nach der Art, wie das | |
Zusammensein mit anderen Menschen gestaltet ist. Deshalb sind Menschen | |
Natur- und Kulturwesen zugleich. Biologisch tritt das Neugeborene des | |
Jahres 2024 mit exakt demselben Gehirn an wie seine Vorfahrin vor 200.000 | |
Jahren; aber was dieses Gehirn kann, inkorporiert die Fähigkeiten, | |
Techniken, Wissensbestände (und Defizite und Beschränkungen) der Gegenwart. | |
Der asoziale oder antisoziale Sozialtypus, der gegenwärtig Konjunktur hat, | |
ist eine jener zivilisatorischen Anomalien, die historisch von Zeit zu Zeit | |
hervorgebracht werden – etwa von kriegerischen Kulturen, von | |
sklavenhalterischen, von totalitären oder eben auch von | |
Hyperkonsumkulturen. Das ist auf den ersten Blick schlecht, enthält aber | |
auch die gute Nachricht, dass man Gemeinsinn – also die Beziehungs- und | |
Resonanzfähigkeit – nicht antrainieren muss. Man muss nur das | |
Trainingsprogramm bekämpfen, das ihn den Menschen abzutrainieren versucht. | |
Die nach wie vor hohen Zahlen des ehrenamtlichen Engagements, die | |
Spendenbereitschaft, die unmittelbare Hilfsbereitschaft, wenn jemand | |
offensichtlich hilflos ist, solidarisches Verhalten oder auch | |
Demonstrationen für die Demokratie und anderes mehr zeigen, übrigens ebenso | |
wie weite Teile von Literatur, Theater, Oper, Musik und bildende Kunst, | |
dass Beziehung und Resonanz die zentrale Bedürfnismatrix bilden, um deren | |
Befriedigung es den allermeisten Menschen geht. | |
## Es ist Zeit, Gemeinsinn wieder stark zu machen | |
Das gilt. Weshalb es politisch an der Zeit ist, so scheinbar altmodische | |
Kategorien wie Gemeinsinn und Gemeinwohl wieder stark zu machen – gegen | |
alle interessierten Verlockungen unterschiedlicher Formen und Spielarten, | |
die die Menschen zu vereinzeln trachten. Was sich an den entgegengesetzten | |
Rändern des politischen Gemeinwesens extrem antisozial ausprägt – die | |
faschistischen Bestrebungen der Herstellung von Gemeinschaft durch | |
Ausgrenzung ebenso wie die identitätspolitischen Bestrebungen der | |
Herstellung von Gemeinschaft durch Ausgrenzung – hat den systemischen | |
Nachteil, nicht belastbar sein zu müssen: spalten, abwerten, diffamieren, | |
hetzen, denunzieren sind sämtlich verbale Handlungen, die sich mit | |
materiellen Gegebenheiten nicht auseinandersetzen und demgemäß keine | |
Ergebnisse liefern müssen. Das macht sie modisch, aber nicht nachhaltig. | |
Der Scheiß verschwindet schon dann, wenn niemand an ihn glaubt. | |
Das, was aktiv im Raum zwischen den Rändern passiert, eben in der | |
Kommunalpolitik, im Ehrenamt, in den Institutionen der Daseinsvorsorge, in | |
der Nachbarschaft und so weiter muss sich immer materiell beweisen, also | |
belastbar sein. Das erzeugt Wirklichkeit – mit dem Motiv des Gemeinsinns | |
und dem Ergebnis des Gemeinwohls. Das ist subversiv, weshalb wir es zum | |
Schwerpunkt [2][dieses Heftes] machen. | |
Eine Politik der Zukunftsfähigkeit erweist sich in der Konkretion des | |
gemeinsamen Handelns, das zu – vielleicht auch nur kleinen – Verbesserungen | |
des Lebens führt. Aber genau in dieser Gestalt ist sie erfahrbar und vital, | |
bietet Teilhabe und Erfahrung. Dass man damit, wie jetzt sofort alle | |
Durchblicker sagen, die Welt nicht rettet, ist kein Einwand. Denn mit den | |
großen Lösungen, den plakativen Postulaten, den eindeutigen Forderungen | |
rettet man sie nicht nur auch nicht, sondern man schafft Legitimationen, | |
nicht gegen das Falsche anzugehen, sondern es nur dauerkommentierend | |
geschehen zu lassen. | |
Und ganz ehrlich: Wir können das alles gar nicht mehr hören. Gemeinsinn | |
nervt nicht, und Gemeinwohl ist geil. | |
■ Harald Welzer ist Herausgeber von taz FUTURZWEI. | |
■ Dieser Artikel ist im Dezember 2024 in unserem Magazin [3][taz FUTURZWEI] | |
erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe taz FUTURZWEI N°31 mit | |
dem Titelthema „Gemeinsinn“ gibt es ab dem 10. Dezember im [4][taz Shop.] | |
9 Dec 2024 | |
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