# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Robert Mießner: Geschichten und Mythen … | |
Am Freitagabend in Berlin“ ist der Refrain eines Songs der Ost-Berliner | |
Band die anderen. Wie in einem Brennglas beschreibt Texter, Sänger und | |
Gitarrist Olaf Tost, ein großer Abgetauchter der deutschen Popmusik, den | |
Wochenendauftakt in der Hauptstadt der DDR zu deren Ende hin, von A wie | |
Alkohol bis Z wie Zerrüttung. Vorigen Freitagabend trug ich das Lied in die | |
Metzer Straße im Prenzlauer Berg, in das Watt. | |
Das ist eine Kneipe, wie sie sein sollte: Bier und Bücher, Barzahlung und | |
Bands. Nach langer Zeit habe ich dort wieder Platten aufgelegt. | |
Dass es die anderen ein Vierteljahrhundert nach ihrem letzten öffentlichen | |
Auftreten zu Vinyl gebracht haben, verdankt sich ihrem Fan Antek Marquardt. | |
Er hat jetzt die beiden in den Achtzigerjahren als Kassetten vertriebenen | |
Alben mit Begleittexten von Weggefährtinnen und Zeitgenossen, Fotos und | |
Flyern herausgebracht. | |
Die Musik, treibender Wave-Punk, passt ins Watt und zu der anderen | |
Konterbande aus meinem Koffer: Ich habe Platten aus Henryk Gerickes Edition | |
Tapetopia und Alexander Pehlemanns Edition Iron Curtain Radio eingesteckt, | |
Expressivität und Experimente der Achtzigerjahre, dazu westdeutsche, | |
britische und US-amerikanische Klassiker verhaltenen Zorns und pointierter | |
Melancholie. | |
„Mach das öfter“, sagen die Gäste; „schön, dass Du es wieder machst“… | |
Barmenschen. Ich werde, allein schon aus Trotz. Gerade ist dem Watt vom | |
Vermieter gekündigt worden. Wenn es dabei bleibt, schließt nächsten Herbst | |
– und der kommt schnell – einer der letzten Kulturorte im Prenzlauer Berg. | |
Die Betreiberin Sindy Kliche hat das Watt 2015 in den Räumen der vormaligen | |
Kulturspelunke Rumbalotte Continua eröffnet. Die Übernahme war keine | |
feindliche, die Bildhauerin Kliche und die Rumbalotte-Betreiber Mareile | |
Fellien und Bert Papenfuß, Künstlerin sie, Schriftsteller er, kannten sich. | |
Vor der Rumbalotte befand sich in den Räumen das Diller, benannt nach dem | |
Maler und Grafiker Michael Diller: „Er hatte ein riesiges Atelier ganz | |
oben, in der Pappelallee. Dort fanden die wildesten Feten der Ost-Berliner | |
Subkultur statt“, erzählt mir der Schriftsteller und Journalist Ronald | |
Galenza. | |
Am Sonntagabend verschlägt es mich dorthin, wo die Domestizierung Berlins | |
seit Jahren als abgeschlossen gelten kann, nach Mitte. 2023 hat dort das | |
laut Eigendarstellung „Stadtquartier Am Tacheles“ eröffnet, ein Konglomerat | |
aus hochpreisigen Wohnungen, einem Supermarkt und einer Drogerie. Rewe und | |
Rossmann, wohlgemerkt; zu mehr reicht es wahrscheinlich nicht, hat man es | |
erstmal zu dieser Adresse gebracht. | |
Der Name „Am Tacheles“ verweist auf das Kunsthaus Tacheles, das hier von | |
1990 bis 2012 der Stadt Berlin vermacht hat, was vorher und zeitgleich | |
Kreuzberg und Prenzlauer Berg begründet haben: einen schönen, einträglichen | |
und problematischen Mythos. | |
Zum „Stadtquartier Am Tacheles“ gehört eine Niederlassung des schwedischen | |
Fotomuseums Fotografiska. In der Berliner Filiale des Stockholmer Hauses | |
ist die Primärsprache Englisch. Immerhin, am Eingang empfängt die Besucher | |
der gesprühte Schriftzug „Gegenwart“. | |
Aber mehr haben die Betreiber offenbar nicht zu bieten. Der Blick in die | |
Zukunft könnte erschrecken, aus der Vergangenheit entwendet ist das | |
Underground-Patchwork des Treppenhauses. Dabei ist die Geschichte des alten | |
Tacheles alles andere als ein erbauliches Lehrstück in Selbstermächtigung, | |
auch wenn eine der Werbetafeln im ausgeleuchteten und verwaisten Kuppelgang | |
zwischen Friedrichstraße und Oranienburger Straße genau das behauptet. | |
„Der Eine weiß das Eine und der Andere das Andere“, der Satz Ronald M. | |
Schernikaus auf dem letzten Schriftstellerkongress der DDR, wenige Wochen | |
nach der Tacheles-Besetzung, stimmt auch hier. In dem Erinnerungsbuch | |
„Zeugin und Täter“ hat die Tacheles-Aktive Su Tiqqun ihre Geschichte des | |
Entäußerungs- und Durchsetzungsmagneten am Oranienburger Tor | |
aufgeschrieben. Die 250 Seiten sind ein tatsächliches Lehrstück darüber, | |
wie im Sinkflug hochtönender Ideale Menschen auf der Strecke blieben. | |
Eines der beeindruckendsten Konzerte im Kunsthaus Tacheles war übrigens das | |
von F.M. Einheit und Caspar Brötzmann, Stahlperkussion und Stromgitarre, | |
Mitte der Neunziger im Tacheles-Theatersaal. Vorher hatten die beiden | |
Noise-Musiker eine Platte eingespielt. Ihr Cover-Model ist ein Panzer, ihr | |
Titel: „Merry Christmas“. | |
24 Dec 2024 | |
## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
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