# taz.de -- Überall Gefühle von Beklemmung | |
> Im Jüdischen Museum treffen Manuskripte und Zeichnungen aus dem Nachlass | |
> von Franz Kafka auf Werke zeitgenössischer Kunst. Einen soll sie ihre | |
> Vieldeutigkeit | |
Von Verena Harzer | |
Die Frau im roten Pullover scheint direkt in die Kamera zu blicken. Nur wer | |
das Video „The Confessions of Roee Rosen“ [1][im Jüdischen Museum Berlin] | |
länger betrachtet, merkt, dass der Blick in die Kamera ein indirekter ist. | |
Die Frau liest einen hebräischen Text von einem Teleprompter ab. | |
Besser gesagt, sie liest die Übersetzung eines hebräischen Textes in | |
lateinischen Buchstaben, denn die Frau spricht kein Hebräisch. Sie ist eine | |
illegale Gastarbeiterin in Israel und der Künstler Roee Rosen lässt sie | |
seine intime Lebensbeichte vorlesen. In einer Sprache, die sie nicht | |
versteht, aus einem Leben, das sie nicht kennt. | |
In einem anderen Raum ist ein blau leuchtender Fernsehbildschirm zu sehen. | |
In der Mitte der Farbfläche steht ein kleines, grob gepixeltes | |
Super-Mario-Männchen auf einem hellgrünen Schild mit einem dunkelgrünem | |
Fragezeichen. Der Künstler Cory Arcangel hat die digitalen Parameter eines | |
Nintendo-Videospiels manipuliert. Das sonst springende und rennende | |
Männchen bewegt sich nicht mehr. Es ist in einem blauen Pixelmeer gefangen. | |
Zwei künstlerische Arbeiten, die formal und inhaltlich kaum | |
unterschiedlicher sein könnten. Und doch haben sie eines gemeinsam: Beide | |
erschließen sich nicht auf den ersten Blick, sind mehrdeutig lesbar. | |
Genau wie [2][das Werk des Schriftstellers Franz Kafka], sagt die Kuratorin | |
Shelley Harten. Sie ist verantwortlich für die Ausstellung „Access Kafka“, | |
die im Jüdischen Museum in Berlin zu sehen ist. Es ist die letzte große | |
Ausstellung im Kafka-Jahr 2024. Vor 100 Jahren starb der weltberühmte | |
österreichisch-tschechische Autor. | |
Harten hat dafür 30, zum Teil noch nie in Deutschland gezeigte Manuskripte | |
und Zeichnungen aus Kafkas Nachlass mit zeitgenössischen Kunstwerken in den | |
Dialog gebracht. Herausgekommen ist eine spannende und originelle | |
Annäherung an Kafkas Werk. Nur was die Auswahl der Gegenwartskunst angeht, | |
lässt die Ausstellung einen etwas ratlos zurück. | |
Kafkas Werk sei alles andere als leicht zugänglich, sagt Harten. Seine | |
Schriften seien eben nicht eindeutig, sondern von Vielfalt geprägt. Eine | |
Eigenschaft, die sie mit Werken der Gegenwartskunst teilen. Außerdem ziehe | |
sich durch Kafkas Werk das Thema „des Zugangs und der Zugehörigkeit“: | |
[3][Überall stoßen Kafkas Protagonisten auf verschlossene Türen, Fenster | |
oder unüberwindbare Schwellen.] Ein Thema, das auch in unserer Gesellschaft | |
allgegenwärtig sei, sagt Harten, mit dem sich viele bildende Künstler | |
auseinandersetzen. | |
Die Ausstellung ist in fünf Kapitel unterteilt: Access Denied sowie Access | |
Wort, Körper, Raum, Gesetz und Judentum. Jedem Kapitel sind ein Auszug aus | |
Kafkas „Ein Hungerkünstler“, Manuskripte und Zeichnungen des Autors, eine | |
Schautafel zu Kafkas Leben sowie Werke von zwei bis fünf zeitgenössischen | |
Künstlern zugeordnet. | |
Es macht Spaß, sich durch die Ausstellung zu bewegen, sich mit Kafkas Werk | |
und Leben auseinanderzusetzen und Bezüge zu den ausgestellten Kunstwerken | |
herzustellen. Schon im Treppenhaus werden die Ausstellungsbesucher von | |
Plakaten mit der vielversprechenden Aufschrift „Wer Künstler werden will, | |
melde sich!“ empfangen. Ein Zitat aus Kafkas Romanfragment „Der | |
Verschollene“. Beim Betreten der Ausstellung dann die Absage: Eine ganze | |
Wand hat die Künstlerin Ceal Floyer mit den roten Schildern beklebt, die in | |
den USA häufig in Schaufenstern hängen: „No positions available“, keine | |
Stellen frei. | |
[4][Der Künstler Guy Ben Ner] hat sich in seiner Arbeit „House Hold“ | |
gefangen hinter dem Holzgitter eines Kinderbettes gefilmt. Seine Versuche, | |
sich aus der misslichen Lage zu befreien, werden immer grotesker. Dabei | |
würde ein kräftiges Rütteln an den nicht gerade stabil wirkenden Holzstäben | |
wohl genügen, um sich zu befreien. | |
Die Situation erinnert an eine Zeichnung Kafkas gleich zu Beginn der | |
Ausstellung. Eine mit einfachen Strichen gezeichnete Figur, eingeschlossen | |
von einem Zaun. Würde sie sich umdrehen, könnte sie sehen, dass hinter ihr | |
eine große Lücke im Zaun klafft: der in sich selbst gefangene, moderne | |
Mensch. | |
Und so geht es weiter, durch die Räume des Jüdischen Museums. Überall Kafka | |
und tolle zeitgenössische Kunst. Überall verwehrte Zugänge und beklemmende | |
Gefühle. Trotzdem macht sich irgendwann das Gefühl einer großen Lücke | |
breit. | |
Denn was man in der gesamten Ausstellung vergeblich sucht, sind Bezüge zu | |
den Zugehörigkeiten und Zugängen, die Millionen von Menschen auf dieser | |
Welt gerade konkret verwehrt werden: Die Kriege in der Ukraine, im Nahen | |
Osten, auf dem afrikanischen Kontinent. Die Klimakatastrophe, die weltweite | |
Massenmigration, die geopolitische Neuausrichtung der Weltordnung. | |
Nichts davon im Jüdischen Museum. Die Ausstellung plätschert harmlos im | |
Fahrwasser des existenziell Gefühligen vor sich hin. Das ist alles schön | |
und anregend – und hat am Ende doch den schalen Beigeschmack der | |
Irrelevanz. | |
„Access Kafka“, Jüdisches Museum, bis 4. Mai 2025 | |
24 Dec 2024 | |
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## AUTOREN | |
Verena Harzer | |
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