# taz.de -- Christa Pfafferott Zwischen Menschen: Einer liegt da wie zum Sterben | |
Hamburg-St. Pauli. Ein Dezembertag. Dünner Regen setzt ein. Ich gehe die | |
Wohlwillstraße hinunter und ziehe meine Kapuze über. Links neben mir in | |
einer Einfahrt, die zu Hinterhäusern führt, sehe ich einen Körper auf dem | |
Boden. Es muss ein Körper sein. Da liegt ein Schlafsack, kaum erhöht, auf | |
einer dünnen Matte. Aus dem Schlafsack ragt ein Schuh. Kein Kopf ist zu | |
sehen, kein Gesicht. Auf St. Pauli, fast überall in der Stadt, liegen | |
häufig Menschen im Schlafsack auf dem Boden. Warum bringt mich dieser | |
Anblick zum Stehen? | |
Vielleicht, weil dieser Mensch dort im Schlafsack so offensichtlich Schutz | |
gesucht hat, sich weggelegt hat von der Straße. Unwirklich steigt ein Bild | |
in mir hoch. Ein Mensch, der sich zur Seite geschleppt hat wie ein Tier zum | |
Sterben. | |
Vielleicht berührt es mich auch zu sehen, dass dieser Mensch in Schuhen | |
schläft. Natürlich, das ist wärmer. Aber es ist so unbequem, in Schuhen zu | |
schlafen. Sehe ich Obdachlose, denke ich oft daran, wie zäh sie sein | |
müssen, dass sie überhaupt in der Kälte schlafen können, auf unwegsamem | |
Boden. Keine Wohnung zu haben bedeutet auch keinen bequemen und geschützten | |
Schlaf zu haben. Vor Kurzem meinte ein Bekannter aus Oslo zu mir, dass es | |
ihn so umtreiben würde, wie viele Menschen in Hamburg auf der Straße | |
liegen. Dass es das so in Norwegen nicht gäbe. | |
Ich gehe in die Einfahrt hinein, möchte mich von etwas überzeugen, | |
vielleicht, dass die Person lebt. Doch auch etwas anderes zieht mich an, | |
eine allgemeine Sorge um etwas Größeres, die ich kaum in Worte fassen kann. | |
In der Tasche spüre ich noch einige Münzen. Ich möchte sie dort ablegen, | |
damit die Person wenigstens etwas vorfindet, wenn sie aus diesem Schlaf | |
erwacht. Vielleicht freut sie sich dann. | |
Ich knie mich hinab zu der Gestalt, die sich die Kapuze tief ins Gesicht | |
gezogen hat. Als ich mich hinabbeuge höre ich den Atem. Der Atem ist tief | |
und fest. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Es klingt so | |
urmenschlich, so jedem Atem gleich. Und doch liegt dieser Mensch im Winter | |
auf dem Boden. Ich denke an ein Buch von Navid Kermani, in dem er | |
beschrieb, dass die Menschen im Iran einander fragen „Mit wem atmest du“, | |
wenn sie wissen wollen, mit wem diese Person ihr Leben teilt. „Mit wem | |
atmest du?“ In wessen Nähe atmen wir, mit wem teilen wir uns die Luft zum | |
Atmen? In diesem Moment atme ich zusammen mit dieser unbekannten Person vor | |
mir. | |
Ich lege die Münzen auf ein Buch, das neben dem Schlafsack liegt. Dann | |
denke ich, dass sie dort vielleicht jemand wegnimmt und rücke sie zur | |
Seite, höre weiter den Atem, gleichmäßig und fest. Und dann denke ich, was | |
mache ich hier eigentlich? Dieser Mensch wird sich gleich noch erschrecken, | |
dass ich direkt vor ihm hocke. Ich lege die Münzen in einen umgekippten | |
Becher, mit dem die Person vielleicht schon Geld gesammelt hat. Ich | |
verlasse die Einfahrt, den Schlaf, die Sekunden geteilten Atems. | |
13 Dec 2024 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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