# taz.de -- Zieht sich der Künstler-Macher zurück? | |
> Ein Wahlrecht für Erdbeeren forderte einst die Kuratorin Carolyn | |
> Christov-Bakargiev, ihr Nachfolger am Turiner Kunstmuseum Castello di | |
> Rivoli will in seiner Antrittsausstellung der Natur eine Stimme geben | |
Bild: Von Schnecken gemalt: Michel Blazys „Le lâcher d’escargots“ entsta… | |
Von Bernhard Schulz | |
Wenn der Mensch gestaltet, dann nicht unbedingt zu seinem oder gar der | |
Natur Besten. Das bezeugen auch die zahllosen Umweltkatastrophen, die den | |
Fortgang menschlicher Eingriffe begleiten. Im Bereich der Kunst aber möchte | |
man sich doch gerne als Schöpfer, als Homo Faber, fühlen. Obwohl auch das | |
eine Schimäre ist. Denn Kunstwerke verändern sich unter dem Einfluss von | |
Natur und Umweltbedingungen. Und sie können mithilfe der Natur geschaffen | |
werden. „Gegenseitige Hilfe“ ist die Ausstellung zu diesem Thema der „Kun… | |
in Zusammenarbeit mit der Natur“ überschrieben, die der neue Direktor des | |
Castello di Rivoli, Francesco Manacorda, zusammentragen ließ. | |
Die Bauruine eines Residenzschlosses des Savoyer Königshauses in der Nähe | |
von Turin wurde vor vierzig Jahren als Sitz eines Museums zeitgenössischer | |
Kunst hergerichtet. Der aus zwei gewaltigen, nahezu unverbundenen Bauteilen | |
bestehende Komplex birgt eine 170 Meter lange eindrucksvolle, aber | |
schwierig zu bespielende Galerie. In diese hinein haben Manacorda und sein | |
Team künstlerische Arbeiten gestellt, insbesondere Skulpturen und | |
Environments, die teils von Menschenhand, teils von Lebewesen geschaffen | |
oder zumindest verändert wurden. | |
Der Unterschied, versteht sich, liegt darin, dass der Homo Faber ein | |
Kunstwerk schaffen will, seine natürlichen Partner hingegen allein ihren | |
ererbten Instinkten nachgehen. Es ist der Mensch, der das Ergebnis in den | |
Rang eines Kunstwerks hebt. | |
Solche Arbeitsteilung führt die mittlerweile 93-jährige Agnes Denes vor, | |
die 1982 mit dem legendären, von ihr auf dem Aushub einer Baugrube | |
ausgesäten [1][Weizenfeld an der Südspitze Manhattans] den Gegensatz von | |
Natur und Menschenwerk zuspitzte. Die in Turin gezeigten Fotografien eines | |
anderen großen Projekts von Denes, des „Baumberges“ in Finnland, | |
unterstreichen nochmals die Autorschaft des Künstlers. Die Natur führt nur | |
aus. | |
Doch der Künstler-Macher hat sich mehr und mehr zurückgezogen. Etwa für die | |
Spinnweben, die Tomás Saraceno in Glaskästen aufspannt, oder die | |
Schleimspuren von Schnecken, die Michel Blazy 2009 über einen blauen | |
Teppichboden hat kriechen lassen. | |
Den Ausstellungstitel der „Gegenseitigen Hilfe“ haben die Rivoli-Macher bei | |
dem russischen Anarchisten und Geografen, [2][Pjotr Kropotkin] und dessen | |
wissenschaftlichem Hauptwerk, „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und | |
Menschenwelt“, von 1902 ausgeborgt. Kropotkin stellte sich damit gegen | |
Charles Darwin und dessen zum Sozialdarwinismus vergröberte Annahme des | |
ewigen Konkurrenzkampfes als Motor der Evolution. Unter der Bedingung | |
knapper Ressourcen, so Kropotkin, erweise sich gegenseitige Unterstützung | |
als wirksamer. | |
Dass solche Gegenseitigkeit in der Kunst doch eher eine einseitige, vom | |
Menschen vorgegebene Unterstützung darstellt, wird im Rivoli deutlich. So | |
das Einwuchern einer bronzenen Hand-Skulptur in einen Baumstamm, dessen | |
Wachstum Giuseppe Penone über die Jahre hinweg dokumentiert und in seinen | |
bekannten Bronze-Abformungen als dauerhaftes Monument zelebriert. Oder die | |
von Bibern benagten Baumstämme, die die Japanerin Natsuko Uchino von | |
lasergesteuerten Fräsmaschinen in größerem Format reproduzieren lässt. | |
Zur Feier der Schönheit der Natur werden die großformatigen Aquarelle von | |
Schmetterlingen, die Maria Thereza Alves in ihrer brasilianischen Heimat | |
gesehen hat und denen sie, wie die Kuratoren es in gängiger Diktion | |
formulieren, „eine Stimme geben“ will. All jenen Lebewesen, die bei den | |
Entscheidungen des Menschen nicht gefragt werden. So hatte vor Jahren schon | |
Manacordas [3][prominente Vorgängerin Carolyn Christov-Bakargiev, Chefin | |
der documenta 2012], mit ihrer Forderung nach Wahlrecht für Bienen und | |
Erdbeeren argumentiert. | |
Und Bakterien? Sie machen, was ihnen per Erbgut mitgegeben ist, im Falle | |
des Environments von Bianca Bondi und Guillaume Bouisset das Zersetzen von | |
Metallen in Wasser. Das Künstlerduo hat die Einzeller in der Camargue | |
aufgelesen und lässt sie in den Vertiefungen von Steinen unter | |
LED-Wachstumslampen ihre Arbeit tun. Wunderschön das Arrangement aus hellem | |
Kalkstein, aufgehäuftem Salz und rötlich sich färbendem Wasser. Am Ende ist | |
die Natur der bessere Schöpfer. Kunst wiederum ist der Versuch, es ihr | |
gleichzutun: So jedenfalls hatte schon der Fotograf [4][Karl Blossfeldt | |
anhand von Pflanzenfotos die „Urformen] der Kunst“, Titel seines | |
bahnbrechenden Buches von 1928, aufgespürt. Seine Fotos wären für die | |
Ausstellung des Rivoli der passende Auftakt. | |
„Mutual Aid. Kunst in Zusammenarbeit mit der Natur“. Castello di Rivoli, | |
Turin, bis 23. März 2025 | |
20 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Schulz | |
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