| # taz.de -- Hussam Al Zaher Hamburger, aber halal: Wählen – und was es wirkl… | |
| Zum ersten Mal habe ich in Syrien gewählt, mit 18 Jahren. Damals war es ein | |
| besonderer Moment: Mit meinem neuen Ausweis in der Hand ging ich in mein | |
| Wahllokal. Dort traf ich auf Bekannte, die für die Baath-Partei arbeiteten | |
| und gleichzeitig als Wahlhelfer*innen eingesetzt waren. Die | |
| Baath-Partei von Diktator Assad vertritt eine Ideologie, die Nationalismus, | |
| Sozialismus, Säkularismus-light, und noch vieles mehr verbindet. Seit dem | |
| Sturz von Saddam Hussein im Irak 2003 ist die Partei eigentlich nur noch in | |
| Syrien stark – jedenfalls war sie es zum Zeitpunkt meiner ersten Wahl. | |
| Die Wahl war jedoch weniger eine freie Entscheidung als eine Formalität: In | |
| meinem Wahlkreis gab es die Liste der Baath-Partei und dann zwei | |
| unabhängige Kandidaten. | |
| Die Unabhängigen? Nicht wirklich unabhängig. Um überhaupt antreten zu | |
| dürfen, mussten sie genug Geld aufbringen, sowohl für die Partei als auch | |
| für den Geheimdienst. In meinem Wahlkreis spielte etwas anderes eine | |
| entscheidende Rolle: die Stämme. Jede Stimme wurde strategisch verteilt, | |
| damit der eigene Stamm im Machtgefüge nicht zu kurz kommt. Das war kein | |
| demokratischer Wettbewerb, sondern ein Kalkül, um traditionsreiche | |
| Netzwerke und Loyalitäten zu stützen. | |
| Jetzt, viele Jahre später in Deutschland, stellt sich mir die Frage: Was | |
| bedeutet Wählen hier? Gerade mit Blick auf die nächste Bürgerschaftswahl in | |
| Hamburg, oder auch die vorgezogene Bundestagswahl. Viele fragen mich, wen | |
| ich wählen würde, doch ich frage mich: Was kann meine Stimme hier wirklich | |
| verändern? | |
| Meine Gedanken schweifen zu einer aktuellen Debatte, die in den Niederungen | |
| der Politik in Deutschland stattfindet, in den Kreisverbänden der Harburger | |
| SPD. Wie die Zeit berichtet, gibt es schon lange Streit um migrantische | |
| Kandidatinnen und um Macht in der Partei. Es klingt, als würde man | |
| versuchen, die politische Teilhabe von Menschen mit Migrationshintergrund | |
| zu kontrollieren – und na ja, das erinnert mich schon etwas an meine | |
| Erfahrungen in Syrien, wo die Auswahl auf bestimmte „erlaubte“ Kandidaten | |
| beschränkt war. Ich weiß, die Harburger SPD ist keine Diktatur! Aber die | |
| Geschichte der türkischstämmigen Politikerin Benizar Gündoğdu ist | |
| bezeichnend: Trotz ihrer Qualifikationen und Erfolge wird sie von internen | |
| Strukturen ausgebremst. Die Gründe? Politische Machtspiele, wie sie überall | |
| existieren – sei es in Syrien oder eben in Hamburg. | |
| Dabei war die SPD einst die Partei der Arbeitenden, eine Heimat auch für | |
| viele Migrant*innen. Heute scheint sie ihren Fokus verloren zu haben, so | |
| wie auch die Linke mit ihren internen Konflikten und ihrer Abhängigkeit von | |
| Themen, die für viele zu weit weg wirken. Wer bleibt dann noch, um die | |
| Interessen von Arbeitnehmer*innen – und damit auch von vielen | |
| Migrant*innen – zu vertreten? | |
| Die SPD schnitt bei der Bundestagswahl 2013 bei Arbeitern und Angestellten | |
| mit etwa 34 % schlechter ab als ihr Gesamtergebnis und verlor Stimmen an | |
| Linke und CDU. 2017 setzte sich der Abwärtstrend fort, auf etwa 25 %, bei | |
| einem historisch niedrigen Gesamtergebnis von 20,5 %. 2021 stabilisierte | |
| sich die Unterstützung unter Arbeitern bei 26 %, leicht über dem | |
| Gesamtergebnis von 25,7 %. Der Fokus der SPD-Kampagne auf soziale | |
| Gerechtigkeit half dabei. Dennoch bleibt die Partei in traditionellen | |
| Arbeitermilieus schwach verwurzelt. | |
| Vielleicht liegt meine Antwort in meiner eigenen Geschichte. Ich bin der | |
| Sohn eines Arbeiters. Vielleicht würde ich deswegen SPD wählen. Aber | |
| vielleicht auch nicht, weil ich glaube, dass Politik nicht nur Machtkämpfe | |
| und Intrigen sein sollte, sondern die Stimmen all jener braucht, die zu oft | |
| übersehen werden, ob in Deutschland oder in Syrien. | |
| Wählen, so scheint es, ist überall auf der Welt ein Balanceakt zwischen | |
| Hoffnung und Ernüchterung. Die Frage bleibt: Ist es in Deutschland wirklich | |
| so anders? Oder müssen wir alle daran arbeiten, dass es so wird? | |
| 3 Dec 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Hussam Al Zaher | |
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