Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Aufbruch in den Postkapitalismus
> Keine Angst vor dem Neuen: Die Anthologie „Wohlstandsalternativen“ mahnt
> einen gesellschaftsstukturellen Umbruch an. Es ist eine facettenreiche
> Rundschau, für Nichtwissenschaftler*innen ist der Band aber leider schwer
> zu lesen
Von Harff-Peter Schönherr
Viele, die über Wohlstand sprechen, denken dabei nur an Geld, an
kapitalistische Akkumulation, von der man selbst stärker profitiert als
andere. Viele denken, jeder Wohlstand hänge von materiellem Wachstum ab und
suchen nach Wegen gegen die Angst, angesichts multipler Globalkrisen sei
dieses Wachstum vorbei.
Wer sich davon überzeugen will, wie kurzsichtig das ist und dass wahrer
Wohlstand Wohlbefinden ist, solidarisches Miteinander, findet in der
Anthologie „Wohlstandsalternativen. Regionale Positionen und räumliche
Praktiken“ gute Argumente.
Neun Wissenschaftler*innen, von der Soziologie bis zur
Wirtschaftsgeografie, aus Universitäten von Trier bis Freiburg, fächern
eines der Zentralprobleme unser Zeit auf, von der sozialökologischen
Regionalentwicklung bis zur Realutopie, von der Daseinsvorsorge bis zum
Wertversprechen, von der Gemeinwohlökonomie bis zum Bruttonationalglück.
Sie skizzieren die Notwendigkeit einer Transformation, ermutigen zum
Aufbruch ins Neuland, in „postkapitalistische Welten“.
Der Sammelband leistet Grundsatzarbeit. Er definiert Begriffe. Er fasst
Ausgangslagen, Positionen, Reaktionsmuster und Veränderungsansätze
zusammen. Er versorgt uns mit einem Überblick über den Forschungsstand.
Facettenreich breitet er eine Gesamtschau vor uns aus, verlebendigt sie
durch die exemplarische Vorstellung lokaler Einzelinitiativen.
Vehement distanziert er seine „Alternativen“ von allen „politisch
rechtsgerichteten Diskursen“, von Spielarten des Weniger-ist-Mehr, die es
vermeiden, gesellschaftsstrukturelle Missstände in den Blick zu nehmen.
Es geht um das Teilen, auch um Teilhabe. Es geht um Nachhaltigkeit und
Gerechtigkeit, um Lebensqualität und Überkonsum. Es geht um die Kluft
zwischen den Profiteuren und Opfern der Globalisierung. Es geht um
Umweltzerstörung und Green Economy, um Protestformen wie Occupy und
Aktivismen vom Tauschring bis zum Urban Gardening, um den
Happy-Planet-Index und die Suche nach einem guten, besseren Leben.
Das ist viel Stoff, komprimiert auf kleinem Raum. Das ist komplex und keine
leichte Kost. Zauberworte und leichte Lösungen sind hier nicht zu finden,
dafür Appelle an Politik, Verwaltung und Wirtschaft, an jeden von uns.
Beides ist gut.
Am Ende wissen wir: Auf Altem zu beharren, ist ebenso falsch wie Angst vor
dem Neuen. Und: Wer zukunftsfähig bleiben will, muss permanent
nachjustieren. „Unvollständigkeit als Haltung“, so einer der wichtigsten
Sätze, zeige „dem Effizienzstreben, dem Optimierungswahn, dem Abbau
gewohnter (Konsum-)Routinen sowie dem Steuerungs- und Kontrollanspruch, die
Katastrophe retten zu können, eine zugleich lässig-entspannte sowie
souveräne und in sich ruhende, diverse Alternative auf.“ Lässig? Entspannt?
Trotz aller Düsternisse? Eine heilsame Wortwahl in unserer Zeit der
Polarisierungen.
All das überzeugt. Wissenschaft, zeigt sich, muss nicht meinungs- und
wertfrei sein. Wir lesen einen Weckruf, einen Anstoß zur Debatte.
Aber wen regt „Wohlstandsalternativen“ zur Debatte an? An wen richtet sich
die gehaltvolle Literaturliste? An wen richten sich verkopfte Endlossätze
wie: „In ähnlicher Weise wie feministische Positionen Utopie als
erreichbare Dimension in die Jetztzeit hineindefinieren und diese anderen
machtvollen Beharrungskräften entziehen, zeigt sich an Foucaults zeitlicher
Betrachtung von entkoppelten Raumdimensionen, dass sich die von ihm
propagierten Heterotopien durch überlagernde Raumformationen auszeichnen,
statt durch funktional getrennte und partikularisierte Raumeinheiten“?
Auch der Anspruch des Buchs, einen „möglichst breiten Kreis von Lesenden“
anzusprechen, ist ein Wagnis. Bei Indexeinträgen von Munizipalismus bis
Konvivialismus, von Deprivation bis Distinktionsgewinn, von Fureai Kippu
System bis Keynesianischer Klassenkompromiss, ist es fraglich, ob diese
Breite wirklich Breite hat.
Gutes Seitendesign könnte bei der Stange halten. Leider findet es nicht
statt. Dass der Verlag sagt, er setze auf ein „markantes Look and Feel“,
sich bei der Fotoauswahl aber mit einer Handvoll aussageschwacher, wie
zufällig eingestreuter Motive begnügt, teils in unternehmenswerblicher
Anmutung, teils unscharf, teils laienhaft komponiert, verwundert. Vieles
andere hätte mit mindestens ebenso großer Berechtigung illustriert werden
können, aber noch nicht einmal die Gesprächspartner großer Interviews
werden gezeigt. Das ist seltsam. Auch das Umschlagbild ist Teil dieser
Fehlleistung: Was es zeigt, bleibt unklar.
Kurz: „Wohlstandsalternativen“ muss man sich erkämpfen. Wer gedankliche
Verschränkungen mag, auf optische Reize verzichten kann, wird reich
belohnt. Wer vor Sätzen kapituliert, in denen hoch kulturelle Begriffe wie
„Kammerton“ und „Bricolage“ Hemmschwellen aufbauen, verpasst viel.
Akademiker sind hier unter sich. Eigentlich schade.
11 Nov 2024
## AUTOREN
Harff-Peter Schönherr
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.