# taz.de -- Der Ausblick ist schwindelerregend | |
> Im Programm „Kunst im Stadtraum“ widmet sich die Forschungskooperative | |
> Poligonal der Leipziger Straße. Erster Stopp war die Wohnung der | |
> Stadtplanerin Algisa Peschel, heute geht es in der Galerie Klemm’s weiter | |
Von Robert Mießner | |
Sie ist ein Kriegskind, das betont Algisa Peschel als Erstes. Sie hat | |
Dresden brennen sehen und ist auf dem Dorf aufgewachsen. Dort fand ihre | |
Familie mit sieben Personen ein Dach überm Kopf bei der Urgroßmutter, | |
erzählt die 84-Jährige. Auf dem Land hat es Algisa aber nicht gehalten. Sie | |
lebt über den Dächern von Berlin, im 24. Stockwerk in einem der Hochhäuser | |
an der [1][Leipziger Straße]. | |
Frau Peschel kann aus zwei Balkonen schauen; der eine weist in Richtung | |
Potsdamer Platz, der andere in Richtung Spittelmarkt die ganze Häuserzeile | |
der Leipziger Straße entlang, dahinter die Spree, der Alexanderplatz und | |
der Fernsehturm. Der Ausblick ist atemberaubend und schwindelerregend; der | |
Fahrstuhl braucht seine ungewohnte Zeit, in der einem anders werden kann. | |
Algisa Peschel ist das gewohnt. 1974, vor fünfzig Jahren, ist sie | |
eingezogen. | |
Da war sie 33 Jahre alt und aus der studierten Vermessungsingenieurin eine | |
Stadtplanerin geworden. Frau Peschel hat am ehrgeizigen Wohnungsbauprogramm | |
der DDR mitgearbeitet, Begriffe wie „Komplexrichtlinie“, „Wohnraumlenkung… | |
und Bautypen-Bezeichnungen gehen ihr von den Lippen wie die Aufforderung, | |
sich doch bitte an dem reichhaltigen Kaffee-und-Kuchen-Buffet zu bedienen. | |
Algisa Peschel hat in ihr Zuhause eingeladen. Über ein Dutzend | |
Interessierte verteilen sich in der geräumigen Wohnküche und der Sitzecke | |
zwischen Bücherregalen und Bilderwand. Frau Peschel greift in Fotoalben. | |
Bilder machen die Runde, auf denen die Leipziger Straße vor den Hochhäusern | |
zu sehen ist: eine vom Krieg rasierte Brache, die sich nach dem Bau der | |
Berliner Mauer ins Nirgendwo verlor. Das „Auferstanden aus Ruinen“ der | |
DDR-Nationalhymne hat hier seine Entsprechung. | |
Im Frühjahr konnte man die Stadtplanerin mit dem Ernst-Busch-Chor im | |
Humboldt Forum singen hören: [2][„Bau auf! Bau ab!“ hieß das | |
Theaterspektakel zum Palast der Republik nach Heiner Müller und Brigitte | |
Reimann]. Fast hätte sich der Chor geweigert. Der Stachel über den Abriss | |
des Palastes, Beispiel für den nicht nur architektonischen Kahlschlag der | |
Nachwende, saß und sitzt tief. Es brauchte Regisseur Ron Zimmering, Enkel | |
des DDR-Schriftstellers Max Zimmering, die Sänger zu überzeugen. Der Name | |
des Chors verpflichtet: Ernst Busch war Kommunist und mit dem SED-Politbüro | |
oft in der Kontroverse. Das eine lernte man in den beiden Schulen in der | |
Leipziger Straße, das andere musste man anderswo in Erfahrung bringen. | |
Den Erinnerungsstrom ausgelöst hat das Programm „Kunst im Stadtraum“ der | |
Forschungskooperative Poligonal. Kunst ist Frau Peschels Stichwort; sie | |
erinnert an einen Malwettbewerb für die Nachbarskinder, den sie unmittelbar | |
nach ihrem Einzug organisiert hat. Damals hätten auf jeder Etage zehn | |
Kinder gelebt. „Es war einmal“, sagt Freundin Karin rechts von Algisa | |
Peschel. Die beiden haben sich im Kuba-Urlaub kennengelernt. Bernhard, | |
Algisas Mann, sagt wenig, weist aber noch einmal auf das Buffet hin. Er | |
alleine bewältigt das hinterher nicht, sagt er noch. Ein halbes Dutzend | |
Restaurants und Cafés hat es in der Leipziger Straße gegeben, erinnert sich | |
Algisa. Geblieben sind die Räume des Nationalitätenrestaurants „Sofia“, in | |
denen jetzt chinesisch diniert wird; die des „Prag“ stehen seit Jahrzehnten | |
leer. Sie würde nicht mehr herziehen, sagt Algisa. Es fehlen Nachbarn, die | |
grüßen, es fehlt Grün, es fehlt eine Kneipe. | |
Dafür gibt es seit den neunziger Jahren auf der anderen Straßenseite eine | |
Spielbank, auch ein Zeichen der Zeit. An die Adresse des Glückspokers lädt | |
Poligonal heute zu einem Besuch der Galerie Klemm’s ein. Am 14. November | |
dann geht es in die Räume des Kunstvereins Ost (KVOST) zu einer Diskussion | |
über [3][das architektonische Erbe der DDR]. Frau Peschel sagt, sie habe | |
Glück gehabt. Sie konnte nach 1990 in ihrem Fach weiterarbeiten. Wer die | |
Kronprinzenbrücke überquert, die Mitte und Tiergarten verbindet, sollte | |
sich bei Algisa Peschel mitbedanken. Die Brücke ist auch ihre. | |
Kunst im Stadtraum Leipziger Straße, Infos unter [4][www.poligonal.de] | |
14 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
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