# taz.de -- Hauptsache Obst | |
> Ein Mus für jeden Tschechow-Fan: Am Thalia-Theater haben Dörte Hansen und | |
> Antú Romero den Kirschgarten verapfelt und dafür dem russischen Feingeist | |
> allen Feinsinn ausgetrieben | |
Bild: Dynamisch wie früher das Ohnsorg-Theater wirkt die neue Tschechow-Fassun… | |
Von Katrin Ullmann | |
Längst ist Erntezeit. Für die alten, klassische Apfelsorten, die | |
Finkenwerder Herbstprinz heißen, Holsteiner Cox, Gala oder Boskoop. Die | |
südwestlich der Elbe wachsen, dem größten Obstanbaugebiet Deutschlands, dem | |
Alten Land. | |
„Altes Land“ wiederum heißt auch der dort spielende, 2015 erschienene | |
Debütroman von Dörte Hansen. Ein packender Heimatroman, ein Bestseller. | |
2018 folgte „Mittagsstunde“, 2022 „Zur See“. Wieder Bestseller, wieder … | |
norddeutschem Kolorit. Mit feinem Sprachrhythmus, trockenem Witz und | |
plattdeutschen Passagen erzählt Hansen darin von Seeleuten und Landwirten | |
in windumtosten Zeiten. Es sind bewegende Geschichten, rührend und | |
realitätsnah. Geschichten, die verfilmt wurden oder ihren Weg auf die Bühne | |
fanden: Im Hamburger Thalia-Theater inszenierte 2021 dort Anna-Sophie | |
Mahler Dörte Hansens „Die Mittagsstunde“. Der Abend war – wie so oft an | |
diesem Haus – großes Schauspieler*innen-Theater, war ein Publikumserfolg | |
für Nostalgiker*innen und offensichtlich Anlass genug, Hansen, | |
gemeinsam mit Regisseur Antú Romero Nunes, um eine Überarbeitung von | |
Tschechows „Kirschgarten“ zu bitten. Um, wie man im Programmheft in einem | |
Mail-Wechsel zwischen Regie und Theater nachlesen kann, „Tschechow in eine | |
heutige unaufdringliche Form zu bringen“. „Lebendig und modern“ wäre das, | |
kurz: „ein Fest!“, schlägt Nunes darin vor. Das „wäre ein echter Knalle… | |
der Spaß machen könnte!“, antwortet ihm Intendant Joachim Lux. | |
Daraufhin wurden gemeinsame Arbeitsausflüge zur Apfelblüte gemacht und nach | |
Husum, wo Hansen lebt. Es wurden Figuren entwickelt. | |
So wurde aus der desillusionierten Gutsbesitzerin Ljubov Ranevskaja die | |
verschwenderische Hofbesitzerin Astrid von Holt, ihr spielsüchtiger Bruder | |
Gayev findet sich als Bonbons lutschende Gunnar von Holt, der reiche | |
Kaufmann Lopachin als Geschäftsmann Torben Grabowski wieder. Pflegetochter | |
Varja heißt in Hamburg Wiebke. | |
Es sind Figuren, wie sich Hansen und Nunes Norddeutsche vorstellen. Auf der | |
Bühne stehen sie entweder in Altländer Tracht, in schlammfarbenem Parka, in | |
knarzenden Stiefeln oder schimmerndem Künstlerschwarz (Kostüme: Lena Schön, | |
Helen Stein). Sie planen ein Fest zu Ehren der Blütenkönigin, rufen „Moin“ | |
oder „Land macht Laune“, sitzen um den schlumpfblauen Kachelofen (Bühne: | |
Matthias Koch), träumen von alten Zeiten oder mahlen quietschend | |
Kaffeebohnen. | |
Sie schwärmen vom Kulturhaus in Stade, pumpen Geld vom Tantchen aus | |
Buxtehude, öffnen Türen und Fenster für die gute Luft und einen Blick auf | |
den schemenhaft auf ein Rückplafond gezeichneten Apfelgarten, norddeutscher | |
Wolkenhorizont inklusive. Sie verfehlen Liebesgeständnisse (herausragend | |
verklemmt: Thomas Niehaus), schnacken mal Platt und laden zu Klangreisen | |
auf dem Xylophon (unbeirrbar sanft: Nils Kahnwald). | |
Wie eine aseptisch ausgeleuchtete Vorabendserie wirkt die Szenerie, wie | |
Klischees ihrer selbst die darin agierenden Figuren, die Nunes beständig | |
mit Lokalkolorit, Melodramatik und Kitsch umflort. Da fallen weiße Blüten | |
vom Bühnenhimmel, laden Lichterketten zum Tanz und wird auch mal schön | |
vielstimmig „Dat du min Leevsten büst“ angestimmt. | |
Nicht selten wähnt man sich an diesem seichten, schwärmend | |
heimatverbundenen Abend eher im Ohnsorg-Theater, jenem Hamburger | |
Theaterhuus, das gerade mit einer „Altes Land“-Inszenierung „ünnerwegens… | |
ist. In Nunes’Inszenierung wurde alles Rätselhafte und Traumverlorene, | |
alles Symbolhafte und über die Handlung Hinausweisende aus Tschechows | |
„Kirschgarten“ in die festen Dielen einer norddeutschen Hofes gedengelt. | |
Das Wenige, das diesen brutalen Prozess überlebt, kommt als schlichte | |
Heimatkomödie aus Herbstprinz, Tracht und „Tiny Häusern“ daher. Eine | |
Tschechow’sche Stückseele geht eben genau dann verloren, wenn man sie mit | |
einem halben Dutzend Krabbenbrötchen nach Husum schickt, dort allzu lange | |
der kalten klaren Luft aussetzt und sie anschließend mit einem Zentner | |
Äpfel in der Elbe ertränkt. | |
18 Oct 2024 | |
## AUTOREN | |
Katrin Ullmann | |
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