# taz.de -- Tiefenzeit der Gegenwart | |
> Ikonisches, bisher Ungesehenes, Vergessenes: Eine Ausstellung im C/O | |
> Berlin erzählt von einem oft verklärten Jahrzehnt – den 1990ern im frisch | |
> wiedervereinigten Berlin | |
Bild: Werner Mahler, „Mauerfall“, Berlin, 1989, aus der Serie „9. Novembe… | |
Von Martin Conrads | |
„Genosse Judas ist tot“, war der Nachruf überschrieben, den der damalige | |
taz-Redakteur Christian Semler am 23. November 1999 in dieser Zeitung | |
veröffentlichte. Gemeint war der tags zuvor verstorbene Manfred Otto | |
„Ibrahim“ Böhme, der, in der Hoffnung, Ministerpräsident der DDR zu werde… | |
im Februar 1990 zum Vorsitzenden der „Sozialdemokratischen Partei in der | |
DDR“ gewählt wurde. Als langjähriger Mitarbeiter des Ministeriums für | |
Staatssicherheit enttarnt, musste er bereits am 1. April deselben Jahres | |
von allen Ämtern zurücktreten; Ministerpräsident wurde er nie. Das „Genosse | |
Judas“ bezog sich dabei auf [1][das gleichnamige Buch der Journalistin | |
Birgit Lahann] mit dem Untertitel „Die zwei Leben des Ibrahim Böhme“. Zwei, | |
denn Böhme trat, für viele wie aus dem Nichts gekommen, als | |
charismatischer, stets bohemehaft Zigaretten rauchender Hoffnungsträger | |
seiner Partei auf – seine Stasi-Mitarbeit aber leugnete er bis zuletzt. | |
Wenn die Seite mit Semlers Artikel nun im Original in einer Berliner | |
Ausstellung zu sehen ist, dann allerdings wegen der den Text | |
illustrierenden drei phänomenalen Fotografien, die die Zeitungsseite mehr | |
als hälftig füllten. Sie zeigen Böhme zu verschiedenen Zeiten in drei | |
verschiedenen Posen: einmal kryptostaatsmännisch im Profil, einmal – | |
ziemlich abgerissen – frontal aus der Nähe aufgenommen und einmal im Bett, | |
fast schon wie aufgebahrt, als eingebildeter Toter. | |
Zu sehen ist diese taz-Seite in einer Vitrine bei C/O Berlin, am gedachten | |
Ende einer Ausstellung, in deren erstem Raum auch Originalabzüge ebendieser | |
Fotos hängen. „Träum weiter – Berlin, die 90er“, so ihr Titel, zeigt | |
[2][Hunderte von Fotografien aus diesem so durcherzählten wie verklärten | |
Ost-West-Jahrzehnt]. Aufgenommen wurden sie alle von Mitgliedern der 1990 | |
von ostdeutschen Fotograf*innen gegründeten Fotoagentur „Ostkreuz“, die | |
sich unter anderem in ihre Archive begaben und dort noch nie Gezeigtes | |
fanden. Sicher, „Ostkreuz“ dürfte, Berlin betreffend, mit die | |
eindrucksvollsten Bilder des Jahrzehnts festgehalten haben, so viel ist | |
bekannt, und die meisten Fotos von Böhme im ersten Ausstellungsraum aus den | |
Jahren 1990 bis 96 sind ebenso ikonisch wie die auch dort gehängten vom | |
Abend der Maueröffnung. Die Urheber*innen der beiden Serien, [3][Ute | |
(Böhme) und Werner (Maueröffnung) Mahler], wurden Anfang des Monats vom | |
Bundespräsidenten für ihr Werk mit dem Verdienstkreuz am Bande | |
ausgezeichnet und sind neben [4][Sibylle Bergemann], [5][Harald Hauswald], | |
Jens Rötzsch, Thomas Sandberg und Harf Zimmermann die | |
Mitbegründer*innen von „Ostkreuz“. | |
Aber die Dimension, in der hier aus der Tiefenzeit der Gegenwart geschürft | |
wird, mit fotografischer Finesse, steht im Gegensatz zu so manchen eher aus | |
der Hüfte geschossenen Bildern, die in den letzten Jahren in Fotobänden | |
auftauchten, die die Berliner 90er dokumentieren. So ist durchaus | |
gerechtfertigt, wenn hier Bekanntes neben bisher Ungesehenem oder | |
Vergessenem steht: Bergemanns Porträts – von Hans Modrow, von Meret Becker | |
– oder ihr Foto einer kopfüber schaukelnden jungen Frau 1996 im Mauerpark | |
auf der einen Seite, die nicht mehr ganz so präsente, aber dafür nicht | |
weniger dringliche Serie „Bomber“ (1993) von [6][Ute Mahler], die den | |
böse-banalen Alltag eines Lichtenberger Neonazis dokumentiert, auf der | |
anderen. | |
Die Fotografien von neun „Ostkreuz“-Mitgliedern (neben Bergemann, Hauswald | |
und den Mahlers auch Annette Hauschild, Thomas Meyer, Jordis Antonia | |
Schlösser, Anne Schönharting und Maurice Weiss) versammelnde Ausstellung | |
zeigt so Perspektiven auf das Jahrzehnt, die bisher unterrepräsentiert | |
blieben. Die Hausbesetzer*innen (Hauschild, Hauswald), das Tacheles | |
(Schlösser), die Raves (Hauschild, Meyer, Schönharting) – sie kommen zwar | |
alle vor, aber die Serien, die das Auftauchen des Internets in der Stadt | |
zeigen (Hauschild), Jugendliche in ihren Zimmern in einem noch nicht | |
gentrifizierten Prenzlauer Berg (Schönharting) oder Neuköllner | |
Straßenszenen (Schlösser) fehlten im kollektiven Gedächtnis bisher. | |
Konzipiert von [7][C/O Berlin]-Kurator Boaz Levin und dem im Gegensatz zu | |
den Agentur-Gründer*innen aus Westdeutschland stammenden, wesentlich | |
jüngeren Mitglied Hauschild (heute besteht „Ostkreuz“ aus 25 | |
Fotograf*innen west- und ostdeutscher sowie internationaler Herkunft), | |
sind im größten Ausstellungsraum auch Projektionen mit dutzenden Bildern | |
verschiedener Agenturmitglieder zu sehen. Was Resterampe der Ausstellung | |
hätte sein können, überrascht als deren Herzstück. Allein ein Bild mit | |
[8][taz-Mitarbeiter Christian Specht], ein Demoschild haltend, auf dem er | |
die damalige SPD-Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing dafür kritisiert, | |
das städtische Energieversorgungsunternehmen Bewag verkaufen zu wollen, | |
reißt einen ganzen Kosmos bis in die Gegenwart wirkender politischer | |
Auseinandersetzungen jenes Jahrzehnts auf. | |
„Träum weiter“: C/O Berlin, bis 22. Januar 2025 | |
21 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
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