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# taz.de -- Angriffe auf das Selbstbild
> Johannes Franzen hat eine Theorie dazu, warum Geschmacksurteile verletzen
> können
Bild: Was würde Ästhetische Theorie dazu sagen? Fans von Taylor Swift in Lond…
Von Michael Wolf
Es heißt, über Geschmack lasse sich schlecht streiten, doch hält die
deutsche Sprache eine Vielzahl an Floskeln vor, die auf das genaue
Gegenteil hindeuten. Wendungen wie „Jedem Tierchen sein Pläsierchen“,
„Leben und leben lassen“ oder „Ich mag das halt“ wären ja gar nicht
notwendig, wenn die eigenen ästhetischen Vorlieben nicht immer wieder in
Konflikt mit denen anderer träten.
All das sind nur Beschwichtigungsversuche in einem ständigen Wettstreit.
Denn Präferenzen für bestimmte Musik, Kunst, Bücher, Filme oder Serien
ergeben keine neutral betrachteten Eigenschaften, sondern entscheiden mit
über [1][kulturelles und soziales Kapital.] Mit dem Verweis auf das
zutiefst Private („So bin ich nun einmal“) flüchtet man (meist erfolglos)
vor dieser Auseinandersetzung, zieht sich in sein Ich zurück, hoffend, dass
die Kritiker dort draußen von einer Belagerung absehen.
Nicht nur der Status einer Person, etwa ihre Stellung in einer Schulklasse,
im Freundeskreis oder im Büro, sondern auch das eigene Selbstbild steht zur
Disposition, können ästhetische Neigungen doch sehr stark
identitätsstiftend und mit tiefen Emotionen verbunden sein. „Wenn jemand
unseren Geschmack öffentlich angreift, dann wirkt das deshalb so
verletzend, weil wir es als Angriff auf unsere existentielle
Selbsterzählung wahrnehmen“, schreibt Johannes Franzen.
Der Siegener Literaturwissenschaftler beantwortet in seinem Buch „Wut und
Wertung“ die Frage, warum die private und öffentliche Kommunikation über
Kunst so oft entgleist, warum sie anfällig für Streit und Skandale ist. Der
Grund finde sich, kurz gesagt, in ebendieser Doppelfunktion des
Ästhetischen: Sie spielt eine große Rolle für das Selbstverständnis einer
Person und ist zugleich eine gesellschaftliche Arena, in der die „feinen
Unterschiede“ ausgespielt werden wollen.
Wie sehr Verletzungen in solchen Auseinandersetzungen schmerzen können,
zeigt sich am Beispiel des [2][US-Autors Jonathan Franzen.] Vor Erscheinen
seines Familienromans „Die Korrekturen“ hatte dieser einiges an kulturellem
Kapital mit anspruchsvollen, aber erfolglosen Büchern angehäuft. Nun befand
er sich, da Talkmasterin Oprah Winfrey ihn zu ihrem berühmten Book Club
einlud, in einer sehr verunsichernden Lage: Er wusste, dass er bald
Millionär sein würde, aber auch, dass er seine Freunde, Mitstreiter und
Leser in avantgardistischen Kreisen verlieren würde. Finanziell mochte
seine literarische Neuerfindung einem Lottogewinn gleichkommen, sozial und
in Bezug auf sein kulturelles Kapital hingegen stand ein Totalbankrott zu
Buche.
Anhand solcher Beispiele führt Johannes Franzen in locker verbundenen
Kapiteln aus, wie Kunst für Disharmonie, Streit, ja mitunter heftige
Aggressionen sorgt. Es geht um den Hass auf „Effi Briest“; um Dynamiken, in
denen schlechte Filme Kult werden; um die Lust am Verriss und um Schüler,
die ihrem ästhetischen Konservativismus zum Opfer fallen.
Auch der Fankultur widmet sich der Autor eingehend und vielleicht etwas zu
wohlwollend. Zwar erreichen Fragen nach Autonomie und Urheberschaft eine
neue Dringlichkeit, wenn Fans durch kollektive Willensbekundungen,
Fanfiction oder performative Aneignungen an der Gestaltung eines
Kunstwerks teilhaben, sich also nicht mehr mit der Rezeption
zufriedengeben, sondern auch die Produktion entscheidend mitprägen. Doch
ist Streit um ästhetische Themen eben auch deutlich interessanter, wenn er
von Personen geführt wird, denen, anders als Fans, eine Abstraktion von
den eigenen Gefühlen möglich ist, die tatsächlich Vorlieben haben und nicht
vollständige Liebhaber sind. Den Dünkel, das Fantum fördere defizitäre
Rezeptionsweisen, kann der Autor jedenfalls mit seinen Beispielen
impulsiver und distanzloser Anhänger von Popstars oder Kulturprodukten
nicht gänzlich aus der Welt schaffen.
Der größte Einwand gegen dieses Buch aber betrifft seinen diffusen
Kunstbegriff. Anstatt eine klare Definition zu liefern, verweist Franzen zu
Beginn darauf, dass gerade die Frage danach, was und wer dieses Gütesiegel
verdient habe, ein zentraler Streitpunkt in ästhetischen Debatten sei.
Schön und gut, aber die begriffliche Unentschiedenheit läuft darauf hinaus,
dass dieses Buch eigentlich nicht von Kunst, sondern generell von Geschmack
handelt, ein Konzept mit deutlich mehr Anwendungsfällen. Warum aber
hantiert der Autor dann mit den Begriffen ästhetischer Theorien?
Und warum geht es dann überhaupt so viel um Bücher, Serien, Filme und Musik
und nicht ebenfalls um Mode, Essgewohnheiten oder überhaupt um Konsum- und
Freizeitverhalten? Auch auf Mercedesfahrer, Veganer oder Hobbyjäger trifft
doch zu, dass ihre Entscheidungen zugleich identitätsstiftend und sozial
relevant sind sowie für viele Menschen diskutabel erscheinen. Womöglich
sind die von Franzen dargestellten Phänomene gar nicht akkurat zu
beschreiben, wenn man nur Kulturprodukte untersucht, sondern erfordern
einen weiteren Blick. Etwas weniger Literaturwissenschaft und etwas mehr
Soziologie hätte dem Buch in jedem Falle gutgetan.
26 Oct 2024
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## AUTOREN
Michael Wolf
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