# taz.de -- Vom sozialen Ursprung der Algorithmen | |
> Im Gegensatz zu alarmistischen Streitschriften ordnet Matteo Pasquinelli | |
> das Thema der künstlichen Intelligenz in die Sozialgeschichte ein | |
Von Ingo Arend | |
Es kann sein, dass wir verdammt sind“. Nick Bostrom erging sich vergangenes | |
Jahr in einem Interview einmal mehr in düsteren Prophezeiungen. Seit seinem | |
Bestseller „Superintelligenz“ von 2014 wird der Oxforder Philosoph nicht | |
müde, vor einer künstlichen Intelligenz zu warnen, die bald schlauer als | |
der Mensch sein könnte. In der Tat überschattet die KI-Debatte die Angst | |
vor dem technoiden Übermenschen mit humanoidem (Selbst-)Bewusstsein. Die | |
stets freundliche Alexa im Wohnzimmer ist gleichsam sein primitiver | |
Vorschein. Von Thesen wie „überirdischer Intelligenz“ hält Matteo | |
Pasquinelli nichts. Wenn der Philosoph in seinem jüngsten Buch diesen | |
Diskurs mit der These „Arbeit ist der erste Algorithmus“ konterkariert, | |
will er einen Mythos auf seinen sozialen Urgrund zurückführen. | |
Für Pasquinelli, lange am Karlsruher Zentrum für Kunst und | |
Medientechnologie (ZKM) und seit Kurzem Professor für | |
Wissenschaftsphilosophie an der Ca’-Foscari-Universität in Venedig, ist die | |
„künstliche Intelligenz“, kurz gesagt, nur die jüngste Spitze in der lang… | |
Geschichte der Arbeitsteilung. Für seine Argumentation greift Pasquinelli | |
weit zurück, wenn er den gezeichneten Plan für das vedische Agnicayana, das | |
älteste dokumentierte Ritual der Menschheit, zur Geburtsstunde | |
algorithmischer Kultur erklärt. Mit dem Errichten eines Feueraltars wird | |
dabei der, dem Mythos nach zerbrochene, Körper des Gottes Prajapati wieder | |
zusammengesetzt. | |
Von da führt der Weg über CharlesBabbages Differenzmaschine und der mit Ada | |
Lovelace entwickelten „Analytical Engine“ bis zu dem „Perzeptron“ des | |
US-Informatikers Frank Rosenblatt, dem ersten künstlichen neuronalen Netz. | |
Überzeugend arbeitet Pasquinelli dabei heraus, dass Algorithmen „ihren | |
Ursprung in sozialen und materiellen Aktivitäten“ haben, mithin aus den | |
„Sorgen des Lebens“ entstanden seien. So wie Maschinen nur die | |
Verschmelzung verschiedener Werkzeuge für einzelne manuelle Tätigkeiten | |
waren, ist auch der Computer auf einer noch höheren Ebene eine Abstraktion | |
menschlicher Arbeit. | |
Das Bedürfnis nach deren effektiverer Organisation und einer immer | |
komplexeren Ökonomie durch abstraktere Informationen mutierte in der Folge | |
zu dem, was der US-Soziologe James Beniger 1989 „Kontrollrevolution“ | |
nannte. Von daher erklärt sich Pasquinellis Buchtitel: „Das Auge des | |
Meisters“. | |
Exkurse zu den ideologischen Reflexionen, die diese Entwicklung | |
begleiteten, komplettieren seine spannende Technikgeschichte: Marx’ | |
Überlegungen im „Maschinenfragment“ oder die Begründung der | |
„Mustererkennung“ durch den „Konnektionismus“ des neoliberalen Ökonomen | |
Friedrich Hayek. | |
Pasquinellis Buch kommt zur rechten Zeit. Im Gegensatz zu vielen | |
alarmistischen Streitschriften derzeit ordnet Pasquinellis gedanklich | |
brillantes, äußerst anspruchsvoll geschriebenes und voraussetzungsreiches | |
Buch das Thema so unaufgeregt wie souverän in eine longue durée der | |
Sozialgeschichte ein. Das heißt nicht, dass der linke Philosoph keine | |
Gefahren sieht. Die liegen für ihn aber eher darin, dass das ausufernde | |
algorithmische Modellieren kollektiven Wissens ein „monopolistisches Regime | |
des Wissensextraktivismus in globalem Ausmaß“ erzeugt hat: „KI ist zum | |
Exempel für eine einzigartige Konzentration von Macht und Wissen geworden.“ | |
Materialistisch an Pasquinellis Überlegungen ist, nebenbei gesagt, sein | |
Argument, dass nicht etwa neue Technologien Probleme von Arbeit und | |
Produktion vereinfachten, sondern genau andersherum. Mit seinem Beharren | |
auf den „sozialen Verhältnisse(n) und der Arbeitskooperation“ als den | |
„Motoren der technischen und politischen Entwicklung“ stellt er den | |
Technoidealismus vom Kopf auf die materialistischen Füße. Nicht die | |
Thermodynamik erfand die Dampfmaschine, sondern Letztere erzwang ihre | |
Rationalisierung durch eine Theorie. | |
Für Pasquinelli steht mit der KI kein smarter Frankenstein ante portas. | |
Schon allein deswegen, weil Nick Bostroms „Intelligenzexplosion“, der | |
intellektuelle Quantensprung, der ein solches Wesen erst gebären könnte, | |
die Rechenleistungen und Energiebedarfe der größten Rechner sprengen würde. | |
Legt man Pasquinellis Botschaft, dass KI selbst als schimmernde | |
High-End-Technik „nur“ die Form der menschlichen Arbeit spiegelt, zugrunde, | |
ergibt sich für einen progressiven Diskurs statt der Beschwörung von Angst | |
die Frage: Wer eignet sich wie das darin aggregierte Wissen an – und zu | |
welchem Zweck? | |
26 Oct 2024 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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