# taz.de -- Protokoll aus der Hölle | |
> Lee Yaron protokolliert in ihrem sehr eindrücklichen Buch die Aussagen | |
> von Angehörigen und Überlebenden des 7. Oktober | |
Bild: Lee Yaron, Journalistin bei „Ha’aretz“ | |
Von Klaus Bittermann | |
Die Lektüre dieses Buches ist schwer zu ertragen und dennoch notwendig, um | |
zu verstehen, was [1][der 7. Oktober 2023] ausgelöst hat und was genau | |
geschehen war. Die Autorin Lee Yaron ist in ihrem Buch „Israel. 7. Oktober“ | |
mit den Methoden des Investigativjournalismus und der Oral History | |
vorgegangen. Sie führte Hunderte von Interviews, las Protokolle und | |
E-Mails, hörte verzweifelte Telefonnachrichten und sah sich Handyaufnahmen | |
des Massakers an. Gelungen ist der für die Ha’aretz arbeitenden | |
Journalistin mehr als nur ein „Protokoll eines Anschlags“, wie der | |
Untertitel des Buches lautet, weil es sich eben nicht um einen bloßen | |
Anschlag handelte, sondern um ein Massaker, das die Vorstellungskraft eines | |
Menschen übersteigt. | |
Lee Yaron ist selbst Tochter und Enkelin von Flüchtlingen und | |
Holocaust-Überlebenden, die eine abenteuerliche Odyssee hinter sich bringen | |
mussten, bevor sie sich schließlich in Israel mit nichts eine neue Existenz | |
aufbauen mussten. Sie ist, wie sie gleich zu Beginn klarstellt, Jüdin, | |
Israelin, Feministin, die sich für die gleichen Rechte aller Menschen | |
zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer einsetzt. | |
Yaron protokolliert nicht bloß, sondern sie gibt den Opfern ihre Würde | |
zurück, indem sie deren Geschichte erzählt. | |
Da ist etwa die Geschichte der Waisenkinder Eitan und Natan Kusenov aus | |
Charkiw, deren jüdische Mutter sich gezwungen sah, die Kinder in eine | |
Aufbewahrungsanstalt zu geben, bis sie von einem fortschrittlichen | |
jüdischen Waisenhaus in Odessa erfuhr, das von Rabbi Baksht geführt wurde. | |
Dem Rabbi wurde schnell klar, dass die Besetzung der Krim im Mai 2014 durch | |
Russland für Juden nichts Gutes bedeutete, weshalb er die Evakuierung der | |
Waisenkinder über Rumänien organisierte. Und er hatte recht, denn das | |
Waisenhaus in Odessa wurde von einer Bombe zerstört. | |
Seit Beginn des Krieges suchten 45000 ukrainische Juden Schutz in Israel. | |
Schließlich landeten Eitan, Natan und andere Familienmitglieder in | |
Ashkelon, einer Stadt in der Nähe von Gaza. Die Raketenangriffe der Hamas | |
fürchteten sie weniger als Putins Bomben, obwohl der Schutzschild des Iron | |
Dome in dieser Region wenig effektiv war. | |
Die Familie hatte Glück, denn an jenem 7. Oktober gelang ihnen eine | |
dramatische Flucht mit dem Auto, während sie überall Leichen herumliegen | |
sahen, verlassene Fahrzeuge und als israelische Soldaten verkleidete | |
Hamas-Terroristen, die wild um sich schossen. Zwei Wochen später kehrten | |
sie zurück. Das Haus war von einer Rakete getroffen worden. Aber sie | |
lebten. | |
Über tausend Einwohner der Kibuzzim und Kleinstädte hatten kein Glück. | |
Häufig handelte es sich um Friedensaktivisten, die an den Protestaktionen | |
gegen die Justizreform teilnahmen, um überzeugte Linke, die sich in ihren | |
Gemeinden um den Bau eines Krankenhauses bemühten, das auch den in der Nähe | |
lebenden palästinensischen Bewohnern des Gazastreifens zugutekommen | |
sollte. „Sie glaubten, dass eines Tages Frieden herrschen würde.“ | |
Dazwischen hält Lee Yaron immer wieder ein bisschen Geschichtsunterricht, | |
um zu verdeutlichen, vor welchem politischen Hintergrund sich die grausamen | |
Ereignisse abspielten. Sie erzählt von den Hoffnungen, die durch die | |
Ermordung Jitzhak Rabins zunichte gemacht wurden, und davon, dass Ehud | |
Barak den Palästinensern Land gegen Frieden angeboten hatte, was diese | |
jedoch ablehnten, und schließlich von Ariel Scharon, der den Rückzug | |
Israels aus dem Gazastreifen veranlasste und mit 25.000 Soldaten alle dort | |
lebenden israelischen Bürger evakuieren ließ mit der Folge, dass die | |
palästinensischen Einwohner von Gaza mit der Hamas eine weltweit als | |
Terrororganisation eingeschätzte Gruppe wählten. Und dennoch hoffte man mit | |
in Koffern transportierten großen Summen Bargeld an die Hamas den Konflikt | |
zu befrieden, „genau genommen Bestechungsgelder, um ihre Duldung zu | |
erkaufen“. | |
Aber sie verschweigt auch nicht die andere Seite. Reportagen über die | |
Gewalt israelischer Siedler im besetzten Westjordanland brachten Yaron und | |
ihren Kollegen Morddrohungen ein. Es gibt Filmaufnahmen, wie enge | |
Mitarbeiter der Netanjahu-Regierung damit prahlten, Leute beauftragt zu | |
haben, der Reporterin das Leben schwer zu machen. Netanjahu ist eine | |
Katastrophe für Israel, weil er sein politisches Schicksal Leuten in die | |
Hände gelegt hat, die wie Ben-Gvir glühende Bewunderer von Baruch Goldstein | |
sind, der 1994 29 Araber umbrachte. | |
Dagegen steht jemand wie Ofir Liebstein, der aus Altersgründen schon lange | |
nicht mehr zur Einsatzgruppe gehörte. Aber als er um 9 Uhr morgens am 7. | |
Oktober vom Überfall hörte, fuhr er mit dem Fahrrad und einem Gewehr los. | |
Er wurde erschossen aufgefunden, um ihn herum sechs tote Terroristen. Ofir | |
Liebstein „glaubte an die Koexistenz mit den Palästinensern“, berichtet | |
eine Augenzeugin. „Gerade erst hatte er den Grundstein für eine neue | |
Industrieanlage gelegt, die Jobs für Tausende Palästinenser aus Gaza und | |
Israelis schaffen sollte. Er glaubte, wenn wir – Israelis und Palästinenser | |
– erst einmal zusammenarbeiteten, hätte die Zukunft keine Grenzen.“ | |
Dieser Traum ist geplatzt,und niemand kann sagen, was kommen wird, aber ein | |
wie auch immer gearteter Frieden ist in weite Ferne gerückt. Lee Yaron kann | |
keinen optimistischen Ausblick bieten. Wie auch? Aber ihr Buch öffnet die | |
Augen für die Realität. Und mehr kann man nicht erwarten. | |
19 Oct 2024 | |
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## AUTOREN | |
Klaus Bittermann | |
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