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# taz.de -- Wenn der Dirigent am Taktstock die weiße Fahne hisst
> An der Wiener Staatsoper wird der neue „Don Carlo“ in der Regie von
> Kirill Serebrennikow zu einem Kostümball der besonderen Art
Von Joachim Lange
Es bleibt nachvollziehbar, dass die Wiener Staatsoper Kirill Serebrennikow
mit der „Don Carlo“-Neuinszenierung beauftragt hat. Diesmal die vieraktige
italienische Fassung von 1884. Der [1][im Exil lebende Russe,] der sich
bereits von seinem Moskauer Hausarrest aus [2][im Westen als Regisseur
etabliert hatte,] ist durch seine Biografie für die ambitionierteste
Schilleroper Verdis prädestiniert. Schon, weil hier das Private so
politisch ist wie selten. Und weil sich Schiller und Verdi mit Genie und
Pathos auf die Seite der Freiheit stellen.
Außerdem hat Serebrennikow schon mit seinem Wiener „Parsifal“ gezeigt, wie
man aus einer Großoper des 19. Jahrhunderts mit szenischer Relevanz für die
Gegenwart packendes Musiktheater macht. Sein Pariser „Lohengrin“ war gar
eine der politischsten und packendsten Inszenierungen der vorigen
Spielzeit! Den damit selbst gesetzten Erwartungen ist er jetzt in Wien
verblüffenderweise nicht mal ansatzweise gerecht geworden.
Im Grunde hat er nur gegen das Klischee aninszeniert, [3][„Don Carlo“] sei
ein Kostümschinken, indem er diese Idee auf die Spitze treibt. Man hätte
verstanden, wenn Philipp II. bei ihm einem Diktator von heute geglichen
hätte. Stattdessen banalisiert er szenisch, was musikalisch hochdramatisch
und packend erzählt wird. Ausbeutung in der globalisierten Textilindustrie,
Umweltverschmutzung oder brennende Wälder als Symptom der
Naturkatastrophen sind schlimm. Aber lassen sich die allseits bekannten
Videobilder dazu wirklich gegen die Barbarei eines Autodafé in Stellung
bringen? Ist das nicht längst ein zeitlos gültiges Bild dafür, wozu
Menschen und von ihnen geschaffene Institutionen fähig sind?
Serebrennikow verlegt das Geschehen (auch als Ausstatter) – in ein steriles
„Institut für Kostümgeschichte“. Hier werden die Originalkostüme des
spanischen Hofes von Philipp II. nicht nur aufbewahrt und gepflegt, sondern
auch am lebenden Objekt auf ihre Brauchbarkeit geprüft. Der König ist hier
nur der Verwaltungschef mit Aktentasche, der Großinquisitor hat offenbar
das letzte Wort. Stumme Darsteller-Alter-Egos von Philipp und Carlos,
Elisabeth und Eboli werden von Helfern mit prächtig nachgearbeiteten
Originalkostümen akribisch ein- – und dann wieder ausgekleidet. Dazu gibt
es biografische Notizen zu den historischen Vorbildern des Opernpersonals.
Serebrennikow verlängert so die Vorlage rückwärts in die Zeit der Handlung
und vorwärts in die Gegenwart. Simpel nebeneinander gestellt, ergibt das
weder eine Zeitreise noch einen Durchgriff oder eine konsistente
Überschreibung. Das Stück zerbröselt auf dieser dramaturgischen Folter wie
am Ende das Gewand von Karl V.; immerhin ein Schlusspunkt als
selbstreferenzielle Pointe.
Was von Liebe und Staatsraison zwischen Elisabetta und Carlo, oder der
Selbsttäuschung der Eboli, von Freundschaft zwischen Carlo und Posa, oder
von der Utopie von Freiheit und der Sehnsucht nach einem Menschen von Posa
und Philipp verhandelt wird, bleibt in dem Hin und Her der Ebenen letztlich
der musikalischen und darstellerischen Überzeugungskraft der Protagonisten
vorbehalten. Und da hatte die Staatsoper die Exzellenz auch zu bieten, die
man hier zu Recht erwartet. Das fängt an beim scheidenden Musikchef der
Oper Philippe Jordan und dem Orchester der Wiener Staatsoper, die
einfühlsam keine intime Passage unterschlugen, nie gegen, sondern immer mit
den Sängern waren, aber auch das Pathos auflodern ließen, wo es hingehörte.
Jordan lieferte obendrein einen szenischen Beitrag, als er einer
aufkommenden Buh-Attacke während der Vorstellung ein weißes Tuch an seinem
Taktstock sichtbar entgegenhielt. Ob schlichtendes Friedensgebot oder
eigene Kapitulation vor dem, was oben passierte, ließ sich so genau nicht
sagen. Die Protagonisten wurden jedenfalls durchweg und zu Recht von der
Gunst des Publikums getragen. Von Joshua Guerrero als Carlo, Étienne Dupuis
als Posa und einem herausragenden Roberto Tagliavini als Philipp bis zu
Eve-Maud Hubeaux als Eboli und natürlich Asmik Grigorian als Elisabetta war
vokaler Luxus angesagt. Für sie alle war Beifall so einhellig wie der
Buhsturm für die Regie.
30 Sep 2024
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## AUTOREN
Joachim Lange
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