# taz.de -- Die Subversion des Vierzeilers | |
> Clemens J. Setz erzählt in „Das All im eignen Fell“ die kurze Geschichte | |
> der Twitterpoesie und beklagt die Algorithmen des Verschwindens | |
Von Uwe Mattheiß | |
Wiederholt räsonierte der Schriftsteller [1][Clemens J. Setz] darüber, | |
Gedichte nicht mehr in Büchern zu veröffentlichen, sondern vorzugsweise in | |
den Mikroblogging-Formaten digitaler Medien. Warum sollte das menschliche | |
Bedürfnis, sich über in Form und Inhalt überstrukturierte Sprachgebilde | |
mitzuteilen, weiter mit dem Bedrucken von Papier verbunden bleiben? Die | |
Entfaltung der Produktivkräfte induziert auch neue Formen der ästhetischen | |
Praxis. | |
Mit „Das All im eignen Fell“ hat er nun doch Teile seines dichterischen | |
Œuvres zwischen Buchdeckel gezwängt. Er verbindet das mit einem klug | |
mäandernden Essay, der „Twitterpoesie“ auch theoretisch zu greifen | |
versucht. Das alles dient der Beweissicherung im Flüchtigen. Funkelnde | |
„poetische Wunderkerzen“ will er den Algorithmen des Verschwindens und der | |
automatischen Löschung scheinbar inaktiver Accounts entreißen. Indem er | |
über sie schreibt, führt er sie dann doch einer literaturbetrieblichen | |
Aufmerksamkeit zu, die ihre Urheber:innen gar nicht angestrebt hatten. | |
Setz blendet zurück ins vergangene Jahrzehnt, als noch ein | |
niedlich-bauchiges blaues Vögelchen Twitter repräsentierte, nicht das | |
martialische weiß-schwarze Andreaskreuz von „X“. Die Begrenzung auf 140 | |
Zeichen zwang zur Entschlackung der Sprache und zur Zuspitzung der | |
Gedanken. Brillante Aphoristiker:innen begaben sich in halbanonymen | |
Accounts auf die Spuren von Gertrude Stein oder Friederike Mayröcker, | |
koppelten triviale Elementarsätze zu new sentences, die in der Kollision | |
Abgründe von Bedeutungsverschiebungen aufreißen, trefflich dazu geeignet, | |
Chaos in die Ordnung binärer Zeichenfolgen und die Sprache der Optimierung | |
von Reichweite und ihrer Monetarisierung zu bringen. Hinter noms de guerre | |
wie @susibumms, @carlsparla oder @donculotte öffnete sich ein umfangreicher | |
Textkorpus, dem Clemens J. Setz in der zweiten Hälfte des vergangenen | |
Jahrzehnts fast täglich „folgte“. | |
Digitale Kommunikation schafft ihre eigene Zeit. Die Lakonie der poetischen | |
Intervention kontrastiert ihre Beschleunigung: „ein Jahr im Internet sind | |
sieben Menschenjahre“ schreibt Carla Kaspari. Luni, für Setz ein | |
rimbaudhafter Held im Digitalen, der von X dauerhaft gesperrt wurde, weil | |
er sich erfrechte, Elon Musk lächerlich zu machen, produziert semantische | |
Kurzschlüsse durch Unschärfen in Grammatik und Morphologie. „Jetzt mit mein | |
Spazierstock Frösche aufspießen/wie so geisteskranke Herr Baron“. Im Geiste | |
Lunis dichtet Setz weiter: „Saxofone letztendlich/auch | |
nur/Ritterrüstungen/für Aale“. | |
In der Twitterpoesie verwirklicht Setz auch seine Vorliebe für gebundene | |
Rede und treibt die Disziplinierung des Denkens weiter durch Reim und | |
regelmäßige Metren. Die Beschränkungen der Abstraktion verschaffen | |
ungeahnte Freiheit, im Vierzeiler entdeckt er subversives Potenzial. | |
Schemata und Gebrauch der Reime verweisen bei ihm vielfach ein Jahrhundert | |
zurück zu den Exponenten einer Neuen Sachlichkeit. Wie diese will Setz die | |
Dichtung vom Weihrauch ums lyrische Ich befreien. Die subjektive Reflexion | |
ist längst in die Prosa abgewandert oder ins bekenntnishafte Sachbuch. | |
Aber die Party ist vorbei, das Zeichenlimit gefallen, ganze Werkjahrgänge | |
unwiederbringlich gelöscht. Twitterpoesie, die Setz – soweit noch vorhanden | |
– unter dem Rettungsschirm des Literaturbetriebs sichern will, krankte wie | |
andere Usergruppen daran, die Metapher der Plattformoberflächen für bare | |
Münze zu nehmen. Ökonomisch und nicht diskursgetrieben bieten sie gerade | |
kein Level Playing Field für Avatare kommunikativen Handelns. | |
Die Freude über die Unabhängigkeit von den Produktionsmitteln des | |
etablierten Literaturbetriebs weicht bald der Erkenntnis, schon vorab der | |
Produktionsmittel beraubt zu sein. Als Monopole funktionieren Plattformen | |
am besten, demokratieverträglich wären sie damit nur als Gemeineigentum. | |
Die „Redefreiheit“ der Tech-Entrepreneurs, die die einstigen New Frontiers | |
des Digitalen kolonisiert und monopolisiert haben, ist nicht die, die in | |
den Verfassungen steht. Sie ersetzt Politik durch Technologie und hinter | |
der Technologie bleibt Gesellschaft als Aushandlungsprozess | |
widerstreitender Interessen außer Sicht. | |
Digitale Poesie, die den Namen verdient, wäre dagegen eine, die die | |
kommodifizierten Häppchen nicht einfach schluckt, die Funktion der Technik | |
und ihre gesellschaftliche Wirkung reflektiert, bis in den Maschinencode | |
vordringt und darin undokumentierte Funktionen freilegt zu prozessualem | |
Arbeiten, Interaktivität und hypertextuellen Verknüpfungen. Sie gibt es in | |
großer Vielfalt seit den ersten Tagen des Computers. Clemens J. Setz hat | |
ein interessantes Buch geschrieben. Aber das Neue darin ist nur eine | |
Fußnote im digitalen Kapitalismus. | |
28 Sep 2024 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Mattheiß | |
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