# taz.de -- tazđŸthema: Alles schon lĂ€ngst dagewesen | |
> Ein konsequent nachhaltiges Haus neu bauen? Diese CO2-Rechnung geht nicht | |
> auf. Recycling ist angesagt. DafĂŒr mĂŒssen wir unsere StĂ€dte wie Minen | |
> ausbeuten | |
Bild: Alte Kronkorken statt neue Fliesen: Das Recyclinghaus in Hannover sieht g… | |
Von Lars KlaaĂen | |
Ein gutbĂŒrgerliches Eigenheim aus ProfilbauglĂ€sern, Eternitplatten und | |
Wellblech. Alle Materialien sind gebraucht, auch die Fensterelemente. Dazu | |
noch Holzlatten von ehemaligen SaunabĂ€nken. Drinnen GittertĂŒren aus einem | |
Bauernhaus, ZwischenwÀnde mit rötlichen Abbruchziegeln aus einer | |
abgerissenen Scheune. Erster optischer Eindruck: wow! Aber um Optik geht | |
hier nicht primĂ€r. Das Recyclinghaus in Hannover, vom ArchitekturbĂŒro | |
Cityförster realisiert, hat aus guten GrĂŒnden eine ganze Reihe von | |
Nachhaltigkeitspreisen gewonnen. | |
Herkömmlicher Hausbau hat eine miese Klimabilanz. Bei der Herstellung und | |
Verwendung von oft verwendeten Materialien wie Stahl und Aluminium stöĂt | |
die Industrie erhebliche Mengen CO2 aus. Besonders schlecht ist etwa die | |
Bilanz von Zement, den es fĂŒr Beton braucht. Bei seiner Herstellung werden | |
Stoffe auf mehr als 1.400 Grad Celsius erhitzt und hierfĂŒr oft fossile | |
Brennstoffe verwendet. SchÀtzungen, wie hoch der CO2-Ausstoà genau ist, | |
schwanken zwischen 100 und 900 Kilogramm CO2 pro Tonne Zement. Die dringend | |
gebotene Bauwende ist bislang höchstens zu erahnen. Eine vielversprechende | |
Lösung nimmt aber zaghaft Form an. Sie orientiert sich an etablierten | |
Strukturen, die wir aus Secondhand-LÀden und von TrödelmÀrkten kennen. | |
An nachhaltig nutzbarem Baumaterial mangelt es nÀmlich schon mal nicht. In | |
unserem Bestand schlummern enorme SchÀtze, die wir bislang verschleudern. | |
Allein in Deutschland fallen jÀhrlich rund 900 Millionen Tonnen Abfall an. | |
Knapp 55 Prozent davon sind Bau- und AbbruchabfÀlle, von denen aber nur | |
knapp 34 Prozent recycelt werden. Vor allem wertvolle Metalle und | |
Baumineralien sind oftmals lange Zeit â nicht selten ĂŒber Jahrzehnte â in | |
Infrastrukturen und GebÀuden eingelagert. | |
Auf diese Weise haben sich enorme MaterialbestĂ€nde angesammelt, die groĂes | |
Potenzial als zukĂŒnftige Quelle fĂŒr SekundĂ€rrohstoffe bergen. Deshalb | |
spricht man in diesem Zusammenhang vom Urban Mining, der Stadt als Mine | |
voller Rohstoffe. Diese konsequent fĂŒr den Hausbau genutzt, auch Sinne von | |
Umnutzung und Umbau des Bestands statt Abriss, bedeutet: Wir verwenden die | |
Materialien und Bauteile immer wieder. Die Bestandteile unserer HĂ€user | |
finden kein Ende, wir nutzen sie von der Wiege bis zur Wiege â oder auf | |
englisch ausgedrĂŒckt: âCradle to Cradleâ, kurz C2C. | |
Cityförster hat in Hannover genau solch ein experimentelles Wohnhaus | |
entworfen und den Bau bis zur SchlĂŒsselĂŒbergabe begleitet. Das | |
Recyclinghaus im hannoverschen Stadtteil Kronsberg wurde im Sommer 2019 | |
fertiggestellt. âEs ist ein Prototyp, der die Möglichkeiten und Potenziale | |
verschiedenster Arten von Recycling im Reallabor austestet und einen | |
kreislauforientierten und ressourcenschonenden Planungsansatz aufzeigtâ, | |
sagt Nils Nolting, Architekt bei Cityförster, der das Projekt betreut hat. | |
âWir haben Recycling- und Gebrauchtmaterialien in einem Umfang eingesetzt, | |
wie bis zum Zeitpunkt der Fertigstellung bei keinem anderen GebÀude in | |
Deutschland.â Das Ziel lautete: erhebliche Verminderung der grauen Energie | |
sowie erhebliche Ressourceneinsparungen im GebÀudeherstellungsprozess. | |
Cityförster hat dafĂŒr auf unterschiedliche Quellen zurĂŒckgegriffen. Mit | |
Blick auf die CO2-Bilanz einschlieĂlich der Transportwege kam dem Projekt | |
auĂerdem zugute, dass viele der Bauteile sich direkt in der Region beziehen | |
lieĂen. | |
Soweit möglich hat Cityförster zunĂ€chst gebrauchte Bauteile genutzt. âEtwa | |
90 Prozent der Fassadenbekleidungen sind aus gebrauchten Bauteilen | |
hergestellt, auch alle Fenster und AuĂentĂŒrenâ, so Nolting. Im Innenausbau | |
und bei den Freianlagen habe man ebenfalls fast vollstÀndig auf gebrauchte | |
Bauteile und Materialien zurĂŒckgegriffen: etwa Messebauplatten fĂŒr | |
InnenwĂ€nde, -böden, -tĂŒren oder gebrauchte Betongehwegplatten als | |
Estrichersatz auf Brettstapeldecken und als Rasensteine, -borde, Mauer. | |
Wo Cityförster bei den gebrauchten Bauteilen nicht fĂŒndig wurde, griff das | |
Team Recyclingbaustoffe vom Baustoffmarkt zurĂŒck: unter anderem | |
verschiedene Produkte aus dem Glasrecycling (Schaumglasschotter, -Granulat | |
und -Platten), verschiedene Recyclingsplitte und eine FassadendÀmmung aus | |
recycelten Kakaobohnen-JutesĂ€cken. âAuĂerdem haben wir industriell | |
recycelte Materialien eingesetztâ, erlĂ€utert Nolting. âFĂŒr die GrĂŒndung … | |
Recyclingbeton wurde erstmals in Niedersachsen eine Zulassung erwirkt.â | |
Musste Material anderweitig ergÀnzt werden, hat das Team recyclingfÀhige | |
Bauprodukte verwendet. âDen Rohbau aus leimfrei zusammengesetzten | |
Massivholzelementen haben wir â wie die meisten Bauprodukte â | |
recyclinggerecht verbautâ, sagt Nolting. âSie sind im Falle des RĂŒckbaus | |
also wieder weitgehend ohne QualitÀtsverlust in ihre Bestandteile | |
zerlegbar.â Kreislaufgerechte Baustellenorganisation hieĂ auch, nahezu alle | |
wÀhrend des Bauprozesses angefallenen Materialreste zu verbauen. | |
Die Rahmenbedingungen fĂŒr das Recyclinghaus waren gĂŒnstig. Denn die | |
Bauherrin des Hauses, das hannoversche Wohnungs- und Bauunternehmen | |
Gundlach, konnte die gebrauchten Bauteile selbst zu einem groĂen Teil | |
liefern. Andere Bauherren, die sich an den Prinzipien Kreislaufwirtschaft, | |
Urban Mining und C2C orientieren, brauchen neben einem guten Konzept samt | |
Entwurf auch Quellen fĂŒr die entsprechenden Materialien. Bundesweit kann | |
man auf Bauteilbörsen und Online-MarktplĂ€tzen fĂŒndig werden. | |
Baustoffe, die kĂŒnftig immer wieder verwendet werden können, kommen auch | |
als neue Produkte zunehmend auf den Markt. âDie Anzahl der Bauprodukte, die | |
dem C2C-Prinzip entsprechen, wÀchst stetig weiter. Das zeigt uns, dass die | |
Hersteller stÀrker auf die KreislauffÀhigkeit, Innovationskraft und | |
Nachhaltigkeit ihrer Bauprodukte achtenâ, so Peter Mösle, Partner der Drees | |
& Sommer SE und GeschĂ€ftsfĂŒhrer der EPEA GmbH â Part of Drees & Sommer. | |
âFĂŒr die Bau- und Immobilienwirtschaft bedeutet das, dass Cradle to Cradle | |
lÀngst kein Nischenthema mehr ist, sondern sich in der Branche immer | |
stĂ€rker durchsetzt.â | |
Baustoffe mit C2C-Zertifikat mĂŒssen folgende Kriterien erfĂŒllen: Sie sind | |
rĂŒckstandsfrei wieder in ihre Bestandteile zerlegbar; frei von Schad- und | |
Giftstoffen; möglichst CO2-frei produziert (durch Einsatz erneuerbarer | |
Energien); ziehen bei der Herstellung den natĂŒrlichen Wasserhaushalt nicht | |
in Mitleidenschaft und werden sozialvertrĂ€glich gefertigt. Um Rohstoffe fĂŒr | |
den Bau in eine Kreislaufwirtschaft zu integrieren, mĂŒssen Unternehmen ihre | |
Produkte aber auch wieder zurĂŒcknehmen. | |
Auf der Angebotsseite ist derzeit viel in Bewegung. Einige regionale Börsen | |
haben mittlerweile wieder geschlossen, anderswo entstehen neue. Generell | |
werden sowohl verstĂ€rkt neue Baustoffe angeboten, die ĂŒber ein | |
C2C-Zertifikat verfĂŒgen, als auch Baustoffe aus dem Bestand zunehmend | |
weiterverwertet â weil die Nachfrage seit Jahren deutlich zunimmt. Es lohnt | |
sich, rechtzeitig vor Planungsbeginn mit dem eigenen Architekten und | |
regional ansĂ€ssigen Handwerkern beziehungsweise BaustoffhĂ€ndlern zu prĂŒfen, | |
ob es vor Ort Materialien zur Wiederverwendung gibt. | |
21 Sep 2024 | |
## AUTOREN | |
Lars KlaaĂen | |
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