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# taz.de -- Zwanghafte Ausbeutung
> Asylsuchende können zu Arbeit verpflichtet werden. Immer mehr Landkreise
> nutzen das. Manche Menschen sehen darin eine willkommene Ablenkung.
> Andere Ausbeutung. Ein Besuch in Sachsen-Anhalt
Bild: Arbeiten für Harzer: Asylsuchende räumen für die Menschen in Hettstedt…
Aus Hettstedt Joscha Frahm
Die Briefe, die Idris H. vom Amt für Soziales und Integration bekommen hat,
hat der 44-jährige Syrer sorgfältig in einer Mappe abgeheftet. Er zieht sie
aus dem Spind, der neben einem vergilbten Nachttisch in seinem kleinen
Zimmer steht. Vorsichtig breitet er sie auf dem Tisch aus. Schwarz auf Weiß
steht es hier: Idris H. hat für rund 100 Stunden Arbeit 83,20 Euro vom
Landkreis Mansfeld-Südharz in Sachsen-Anhalt erhalten. Das entspricht einem
Stundenlohn von gut 80 Cent. Der schmächtige Mann, der einen buschigen
Schnurrbart und Badelatschen trägt, zuckt die Schultern. „Ich habe gerne
geholfen“, sagt Idris H.
Was nach Ausbeutung klingt, erlaubt das Asylbewerberleistungsgesetz seit
2016. Immer mehr Landkreise nutzen das aus. Asylsuchende können zu
sogenannten Arbeitsgelegenheiten verpflichtet werden. Sie müssen dann zum
Beispiel Sammelunterkünfte putzen, Hecken schneiden oder Schneeschippen.
Hauptsache, die Arbeit ist zumutbar und dient der Allgemeinheit, so heißt
es [1][im Gesetzestext]. Wer diese „Arbeitsgelegenheiten“ ohne triftigen
Grund verweigert, dem werden die Sozialleistungen stark gekürzt.
Möglich ist das, weil es sich um eine Beschäftigung abseits des „primären
Arbeitsmarkts“ handelt. Regulär dürfen Asylsuchende frühestens [2][drei
Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland arbeiten] – wenn sie in einer
Aufnahmeeinrichtung leben, erst nach sechs. Als einer der ersten Landräte
in Deutschland hatte Christian Herrgott (CDU) die Arbeitspflicht Anfang des
Jahres [3][im thüringischen Saale-Orla Kreis] eingesetzt. Im April zog
André Schröder (CDU), Landrat in Sachsen-Anhalt, nach. Er verpflichtete 64
Asylsuchende aus der Gegend zwischen Hettstedt und Eisleben dazu, beim
Aufräumen zu helfen, darunter Idris H. [4][Starke Regenfälle hatten den
Fluss Helme überlaufen lassen]. Zahlreiche Grundstücke waren überflutet
worden, Dammschäden drohten. „Alle Leistungsbezieher sollten dem Staat im
Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas zurückgeben“, begründet Schröder den
Schritt. Von Schikane könne keine Rede sein. Man setzte lediglich geltendes
Recht um.
Seit über acht Monaten lebt der Syrer Idris H. in Deutschland. In einem
Industriegebiet am Rande von Hettstedt, zwischen Halle und südlichem Harz,
wartet er zusammen mit 70 Menschen in einer Sammelunterkunft darauf, dass
ihre Asylanträge bearbeitet werden. Vorher hatte er im Osten der Türkei
Schutz gesucht. „Die wirtschaftliche Lage in der Türkei hat sich immer
weiter zugespitzt“, erzählt er. Immer schwieriger sei es geworden, genug
Geld für sich und seine Familie, die noch immer in der Türkei lebt, zu
verdienen. „Ich bin nach Deutschland gekommen, um meinen Kindern eine
bessere Zukunft bieten zu können.“ So habe er sich entschieden, den
beschwerlichen Weg auf sich zu nehmen: mit dem Schlauchboot von der Türkei
nach Griechenland, vierzig Tage Fußweg über den Balkan, Ankunft in
Sachsen-Anhalt. Wenn er über seine Familie spricht, werden seine Augen
feucht, seine Stimme brüchig. In Syrien habe er eine eigene Schneiderei
betrieben, erzählt er. Ein Lächeln huscht über sein müdes Gesicht und
verschwindet gleich wieder. Gerne würde er auch hier eine solche
Schneiderei betreiben, sagt er.
Daran sei im Moment aber nicht zu denken. Morgens schaue er Youtube-Videos,
um Deutsch zu lernen – auf einen Platz im Deutschkurs wartet er noch. Dann
telefoniere er mit seiner Familie, gehe spazieren und schlafe – mehr gebe
es hier nicht zu tun, sagt Idris H. Die Gelegenheit zu arbeiten habe eine
willkommene Abwechslung zum tristen Alltag in der Sammelunterkunft geboten.
An einigen Stellen blättert der Putz in seinem Zimmer ab. Ein verlassenes
Bettgestell steht in der Ecke, der Blick aus dem Fenster geht auf eine
Lagerhalle. Außer dem Summen eines Ventilators ist nichts zu hören.
„Wir haben vor allem Sandsäcke geschleppt“, erzählt H. Auf den Bildern, d…
er mit seinem Smartphone gemacht hat, sieht man Hunderte der weißen Säcke
am Ufer der Helme aufeinandergestapelt. Er posiert stolz in grüner
Arbeitshose und Handschuhen, die der Landkreis zur Verfügung gestellt
hatte. „Die Arbeit war nicht besonders anstrengend, die Leute waren nett
und die Stimmung ausgelassen“, erzählt er. Von Ende April bis Mitte Juli
dieses Jahres hatten sich die Aufräumarbeiten erstreckt, an fünf Tagen in
der Woche waren knapp vierzig Asylbewerber:innen in
Vierstundenschichten angetreten und hatten beim Schleppen geholfen. Die
niedrige Aufwandsentschädigung interessiert H. nicht weiter. „Wenigstens
hatte ich endlich etwas zu tun“, sagt er und lächelt gequält.
„Die Arbeitspflicht für Asylbewerber:innen ist herabwürdigend“, sagt
Christine Bölian, Sprecherin des Flüchtlingsrats Sachsen-Anhalt. „Statt
einer Arbeitspflicht müsste Asylsuchenden ein niedrigschwelliger Zugang zum
Arbeitsmarkt gewährt werden“, so Bölian. Auch das Landesnetzwerk der
Migrantenorganisationen Sachsen-Anhalt (LAMSA) e. V. übt deutliche Kritik.
Der Umgang mit Flüchtlingen im Mansfeld-Südharz-Kreis befördere den Frust,
so Geschäftsführer Mamad Mohamad: „Sobald die Menschen einen
Aufenthaltsstatus haben und sich frei bewegen dürfen, verlassen die meisten
den Landkreis.“ Von Willkommenskultur könne keine Rede sein. Stattdessen
nutze der Landkreis das Machtgefälle zwischen Asylbewerber:innen und
Staat aus.
Arbeiten wollen die Asylsuchenden, die gemeinsam mit H. in der
Sammelunterkunft am Rande Hettstedts leben, so gut wie alle – vielen geht
es nicht schnell genug. „Ich möchte als Tischler arbeiten oder
Bauingenieurwesen studieren“, erzählt Aysar Nori. Der 24-Jährige ist aus
dem Irak geflohen und lebt seit einem halben Jahr in Deutschland. Auch er
darf bisher nicht arbeiten, sein Asylgesuch wurde vorerst abgelehnt. Der
junge Mann besitzt lediglich eine Duldung. Um arbeiten zu können, müsste
Nori [5][eine Arbeitserlaubnis beantragen] – eine solche wird Menschen mit
[6][Duldung aber häufig verwehrt]. „Ich langweile mich sehr in der
Sammelunterkunft“, erzählt Nori. Deutsch spricht er inzwischen fast
fließend. Vor einigen Wochen habe sein Sprachkurs geendet. Doch hier, am
Rande von Hettstedt, sei es schwer, Freunde zu finden, sagt Nori. „Ich
wünsche mir einen Fußballverein und dass ich endlich anfangen kann zu
studieren.“
Mit ihren 13.500 Einwohner:innen ist die sachsen-anhaltische Kleinstadt
gerade so groß, dass man sich auf der Straße nicht grüßt. Bei den letzten
Landtagswahlen wurde [7][die AfD hier mit rund 27 Prozent] der Stimmen
zweitstärkste Kraft. Der Fußweg von der Unterkunft in die Innenstadt dauert
über eine halbe Stunde. Am Dienstagmittag sind ein paar Rentner:innen
mit großen Hüten und Rollatoren auf dem Marktplatz unterwegs, um hier halbe
Hendl und Eiskaffee zu kaufen. Sie haben eine klare Meinung zur
Arbeitspflicht für Asylsuchende. „Ich bin froh, dass die Ausländer
überhaupt mal arbeiten wollen, wenn sie schon herkommen müssen“, meint eine
ältere Dame. Auch Leistungskürzungen finden viele Passant:innen
angemessen.
Laut Landrat André Schröder sind davon 16 Menschen betroffen. Weil sie
Arbeiten ohne Begründung abgelehnt hätten, strich ihnen der Landkreis für
drei Monate einen Großteil ihrer Sozialleistungen. Für alleinstehende
Erwachsene bedeutet das, statt monatlich 460 Euro nur noch fast die Hälfte
ausgezahlt zu bekommen. Das Existenzminimum lag 2023 laut
Bundesfinanzministerium bei 502 Euro im Monat. „Solche Leistungskürzungen
haben für die Betroffenen extrem schwerwiegende Folgen“, sagt Christine
Bölian. Es hindere sie, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Auch
Wirtschaftsexpert:innen raten ab: Es treibe die Menschen in die Armut
und verhindere ihre Integration. Sie bezweifeln, dass die Arbeitspflicht
ein Sprungbrett in den Arbeitsmarkt sei.
„Verhungert ist hier niemand“, heißt es hingegen aus dem Amt für Soziales
und Integration. Verständnis für die Menschen, die die Arbeit verweigerten,
habe sie nicht, meint eine Sachbearbeiterin, die anonym bleiben möchte, am
Telefon zur taz. „Jeder der Betroffenen hatte die Möglichkeit
teilzunehmen.“ Die Menschen, die die Arbeitsgelegenheiten abgelehnt haben,
seien eben selber schuld.
Christine Bölian widerspricht. Es könne viele Gründe haben, warum
Asylbewerber:innen die Arbeit verweigerten. Viele litten unter
posttraumatischen Belastungsstörungen oder anderen psychischen
Erkrankungen. Ein Bericht der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der
psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) zeigt: Fast
90 Prozent aller geflüchteten Menschen in Deutschland haben potenziell
traumatisierende Ereignisse wie Krieg, Verfolgung oder Zwangsrekrutierung
erlebt. „Diese Menschen zu Arbeit zu verpflichten, ist verantwortungslos
und kann retraumatisierend wirken“, so Bölian.
H. sitzt auf einem Baumstumpf am kleinen Bach nahe der Sammelunterkunft.
„Mein Lieblingsplatz“, erklärt er. Er würde seiner Frau und seinen vier
Kindern in der Türkei gerne Geld schicken, sagt er, während er
gedankenverloren auf das kleine Rinnsal blickt, das vor ihm plätschert. Und
dafür möchte er auch arbeiten – gern für einen angemessenen Lohn.
23 Sep 2024
## LINKS
[1] https://www.gesetze-im-internet.de/asylblg/BJNR107410993.html
[2] https://www.bmas.de/DE/Arbeit/Migration-und-Arbeit/Flucht-und-Aysl/Arbeitsm…
[3] https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/ost-thueringen/saale-orla/landrat…
[4] https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/halle/mansfeld/suedharz-hochw…
[5] https://www.bmas.de/DE/Arbeit/Migration-und-Arbeit/Flucht-und-Aysl/Arbeitsm…
[6] https://www.proasyl.de/hintergrund/was-ist-eigentlich-eine-duldung/
[7] https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/landtagswahl/gemeindeergebnis…
## AUTOREN
Joscha Frahm
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