# taz.de -- Das Bild und das Ich | |
> Bernd Stiegler hat eine interessante Analyse der Bildpolitiken von | |
> Porträtfotografien bis zu rechten Netzwerken vorgelegt | |
Von Ingo Arend | |
Als am 24. August letzten Jahres der ehemalige US-Präsident Donald Trump | |
wegen seines Prozesses zu Vorwürfen der Wahlfälschung in einem Gefängnis in | |
Georgia erscheinen musste, ging ein Bild um die Welt. Der obligatorische | |
„mug-shot“ des trotzig blickenden Angeklagten, gekleidet in den Farben der | |
amerikanischen Flagge, Gesicht und Haare von einem weißen Blitz erhellt, | |
avancierte in Sekundenschnelle zu einer politischen Ikone. Als | |
Identitätsmarker der „Make America Great Again“-Kampagne verbreitete es | |
sich viral millionenfach, Trump vermarktete es sofort als T-Shirt. | |
Der Doppelcharakter der (Porträt-)Fotografie zwischen Identifizierung und | |
Identität zieht sich wie ein roter Faden durch das schmale Bändchen zur | |
Geschichte dessen, was der Konstanzer Fotografie-Historiker und | |
Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler „soziale Medien der Identität“ | |
nennt. | |
Folgt man Stiegler, bekannt geworden mit seinen Büchern „Der montierte | |
Mensch (2016) und dem über den Pariser Bohème-Fotografen Nadar (2020), | |
hatte sie diesen Doppelcharakter schon seit ihrem Aufkommen im 19. | |
Jahrhundert. | |
Damals begann eine Art visuelle Biopolitik – so wie sie Kliniken und | |
Psychiatrien, die Polizei oder die Ethnographie zur sozialen | |
Klassifizierung einsetzte. Die Aufnahme en face und en profile, wie bei | |
Donald Trump, erfand der französische Kriminologe Alphonse Bertillon. | |
Mit den in Fotostudios aufgenommenen, an Freunde verschenkten „Carte de | |
Visite“ entstanden zugleich Medien der inszenierten Identität. Auf ihnen | |
nahmen die Porträtierten bewusst Posen und Rollen ein, die der | |
gesellschaftlichen Distinktion dienten. | |
Mit 400 solcher sorgsam arrangierter Porträts avancierte die Contessa de | |
Castiglione, die Mätresse Napoléons III., gleichsam zum It-Girl des Zweiten | |
Kaiserreichs. Der heutige Boom der Porträtfotografie auf Kanälen wie | |
Instagram ist nur die Fortsetzung dieser Entwicklung – unter digitalen | |
Vorzeichen. Damals wie heute ging es um die (kulturelle) Konstruktion von | |
Identität. Erschaffen wurde sie im Spannungsfeld von gesellschaftlicher | |
Norm und dem subtilen Spiel mit ihr: Dem Versuch, ähnlich und doch anders | |
zu wirken. | |
So anspruchsvoll, aber immer verständlich Stiegler diese Kontinuitätslinien | |
nachzuzeichnen versteht, und so die Persistenz einer Bildform belegt, die | |
im Zeitalter ihrer grenzenlosen Manipulierbarkeit dabei ist, jeden Kredit | |
zu verlieren, so wenig gibt sein Essay leider für die aktuellen | |
Identitätskämpfe her. | |
Die Stichworte PoC, Queer oder kulturelle Aneignung sucht man in dem | |
Bändchen vergeblich. Aufschlussreich dagegen ist der Vergleich | |
bildpolitischer Strategien der Linken und der Neuen Rechten. Stieglers | |
etwas binäre Unterscheidung, Erstere sei, weil textuell geprägt, ikonophob, | |
Letztere dagegen ikonophil, mag der Tatsache geschuldet sein, dass er seine | |
Recherche auf Websites wie die linke Plattform linksunten.indymedia, den | |
Telegram-Kanal der Identitären Bewegung in Österreich oder die | |
Social-Media-Seiten der „Deutschen Weltanschauung“ eingrenzt. Und dabei | |
sehr viel Bildmaterial jenseits der Porträtfotografie einbezieht. | |
Dennoch ist sein Befund interessant, dass sich die angeblich | |
kollektivsüchtige Linke auf Individuen, partikulare und diverse Gruppen | |
konzentriere, während die Rechte mit Typenbildern wie in der Frühphase der | |
Porträtfotografie operiere. Suchten deren Protagonisten damals zum Beispiel | |
Rassen zu destillieren, aggregiere die Rechte heute ihre Bilder unter | |
Großbegriffen wie Natur, Geschichte, Masse oder unter Mythen wie | |
„Volksgemeinschaft“ und deutschem Wald. Auf Instagram zeigt sich der | |
AfD-Politiker Björn Höcke gern vor Burgen und Denkmälern. | |
Mit Mark Zuckerbergs „Metaverse“ erreicht die visuelle Identitätspolitik | |
eine neue Stufe. In dessen „erlebbarem Internet“ sieht Stiegler sich die | |
„Identität im Plural“, um die es schon immer ging, mit Hilfe von Avataren | |
in eine unendliche „Vervielfältigung der Identitäten“ weiten. | |
So wie digitale Porträtgeneratoren wie „this-person-does-not-exist.com oder | |
„portraitai.com“ die Simulation personaler Authentizität zusätzlich | |
revolutionieren, wird Stieglers Forderung nach einer „fotografischen | |
Alphabetisierung“ nur umso dringlicher. | |
Ein seit Lázlo Moholy-Nagy unerledigtes Desiderat der „Volksbildung“. Schon | |
1927 hatte der Bauhaus-Fotograf und Herold des „Neuen Sehens“ behauptet: | |
„nicht der schrift-, sondern der fotografieunkundige wird der analphabet | |
der zukunft sein“. | |
7 Sep 2024 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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