# taz.de -- Ines Geipel über ostdeutsche Identität: Zurück ans Lagerfeuer de… | |
> Wie lassen sich Opferkultur, Hass und Destruktion bei Teilen der | |
> Ostdeutschen erklären? Im Interview mit Ines Geipel suchen Harald Welzer | |
> und Peter Unfried nach Antworten – und nach Lösungen für eine bessere | |
> Zukunft. | |
Bild: War das die Wende? Juli, 1990 – DDR-Bürger beim Einladen von Westwaren… | |
taz FUTURZWEI | Suggestivfrage, Frau Geipel: Die Landtagswahlen im Osten | |
richten sich auch gegen den Westen? | |
Ines Geipel: So suggestiv ist das gar nicht. Es sind tatsächlich für viele | |
Wahlen gegen den Westen und damit die Demokratie. Dabei wird es keine | |
Allianz geben wie in Frankreich. Nach dem zweiten Wahlgang hieß es | |
vonseiten der deutschen Politik: Wenn Frankreich das kann, kann der Osten | |
das auch. Aber die Stimmung da ist anders. Es dominieren eher die | |
Ausstiegsszenarien als frappierende Bündnisse. | |
Was heißt das? | |
Man rechnet eigentlich mit dem Desaster und das nicht nur in der Politik. | |
Ich war im Frühsommer in Plauen und Pirna. Da denken nicht wenige der | |
engagierten Leute über die Koffer nach, die sie packen werden. | |
Metaphorisch gesprochen? | |
Leider nicht. Das sind Menschen, die ukrainische Flüchtlinge aufgenommen | |
haben, die Syrer aufgenommen haben, die als Schwule und Lesben leben | |
wollen. Die unendlich viele Zivilprojekte gestartet haben, um ein normales, | |
buntes Leben zu leben. Für sie wird es eng. Sowohl AfD als auch BSW machen | |
auf Heimat, Familie, Nationales. Ein Sammlungsappell ostdeutsche Lagerfeuer | |
und gegen das andere, das Außen. | |
Sie halten nichts von der Annahme, bei den staats- und politikskeptischen | |
AfD-Wählern handele es sich um die klassischen Abgehängten und | |
Benachteiligten? | |
Der Osten ist mittlerweile der Wirtschaftsmotor des Landes. Die | |
ostdeutschen Frauen verdienen mehr als die westdeutschen. Die Sozialdaten | |
sind angeglichen, die Städte Schmuckstücke, die Infrastruktur ist spitze. | |
LNG-Terminals, Tesla, Intel, synthetisches Flugbenzin – alles da. In | |
Dresden und Leipzig boomen die Millionäre. Und nun gibt es ein Verhältnis, | |
das man sich anschauen sollte: Je besser die Zahlen, umso stärker das | |
Antidemokratische. | |
Was ist Ihre Erklärung dafür? | |
Da gibt es nichts Monokausales. Im Osten haben sich augenscheinlich | |
Nationalsozialismus, DDR und die Zeit nach 1989 zum Zeitkontinuum | |
verschweißt. Und in dieser ewigen Ewigkeit soll es keine Hoffnung geben. Es | |
geht nicht um Wut, es geht um Hass, um echte Destruktion. | |
Die Attraktivität des Destruktiven ist ein Erfolgsmodell der AfD und der | |
anderen Populisten. Ansonsten versteht man ja nicht, warum Gutsituierte die | |
AfD so geil finden. | |
Die Kohle ist es zumindest nicht. Es ist ein hartes Nein, die Sehnsucht | |
nach Revanche, nach Eskalation ins Extreme. Es ist die lange Erfahrung von | |
Vernachlässigung, von gelöschtem Leben, das Gefühl, in ein historisches | |
Vakuum hineingezogen worden zu sein. Es ist der Neid auf die Kultur der | |
Freiheit. Das sind alles keine einfachen Dinge. Es gibt auch einen | |
Überlebensgrund, sich nicht zu erinnern. | |
Peter Sloterdijk hat in einem älteren Interview über die Querdenker in der | |
Pandemie gesagt: Das sind Leute, die haben keinen Krieg erlebt, kein | |
schweres Trauma erlitten, das sind Besiegte anderen Typs. Das klingt bei | |
Ihnen auch an. | |
Es sind Besiegte, Beglückte, Selbstbefreite, je nachdem. Das ist schon | |
deshalb so verwunderlich, weil es dieses '89 gegeben hat, die Öffnung, die | |
glückliche Revolution. Wir wollten zur Welt gehören, frei sein. Und nun | |
gibt es dieses 35 Jahre lang eingeredete Underdog-Syndrom – das Konstrukt | |
vom Ostdeutschen als Abgehängtem, Kolonisiertem, Bürger zweiter Klasse. Das | |
hört ja gar nicht mehr auf. | |
Was ist die Ursache dieses Traumas? | |
56 Jahre Diktatur-Erfahrung. Wir haben es uns Ost wie West nach 1989 | |
leichter vorgestellt, das anzuschauen. Dazu die öffentliche Umerzählung, | |
die die Diktatur im Osten ausblendet. | |
Hitler plus DDR. | |
Ja, das verzahnte restriktive Kontinuum, diese endlose Durchsetzung von | |
Staat. Der Osten ist auf dramatische Weise regressiv. Er schleppt zu viel | |
mit, seine ganze Erfahrungswucht. Und unter Druck kehrt er in das zurück, | |
was er kennt. Er erträgt es nicht, vaterlos zu sein. Der Osten hat seine | |
Angst noch immer sicher. Das macht ihn anfällig und zum Experimentierfeld. | |
Wenn du dich im Osten auf die Marktplätze setzt, heißt es stolz: Wir haben | |
es jetzt hübsch hier. Und der nächste Satz lautet: Nun müssen nur noch die | |
Ausländer raus. | |
Die ja gar nicht da sind. | |
Naja, das hat sich schon verändert. Aber man muss es sich vorstellen. Diese | |
Brutalität. | |
Autoritäre Systeme arbeiten mit einem exklusiven »Wir«-Begriff. Sie | |
brauchen auch eine »Sie«-Kategorie, gegen die man stehen kann. Ist das der | |
Transmitter von den Diktaturen nach heute? | |
Der Transmitter ist dieser ewige Umbau des Kollektivkörpers. Den gibt es im | |
Nationalsozialismus und in der DDR, und der ist im Kern stabil geblieben. | |
Nach 1989 haben die Linken sich den geholt. Nach 2015 kommt die AfD und | |
kapert ihn sich, und jetzt hast du so einen kollektiven Nein-Clan mit einer | |
Lust zum Extrem. | |
Sie haben das beschrieben: Der DDRler hatte als Sozialist im Kollektiv der | |
Sieger der Geschichte zu sein, und damit ist er seit 1989 der Verlierer der | |
Geschichte. Richtig? | |
Es ist zuallererst ein Identitätsproblem. Es gibt viel Suche im Osten und | |
zugleich die alten Propagandaidentitäten. Die sind abrufbar. Ansprüche | |
stellen, um das Eigene wissen, dein Ich verteidigen? Wo sollte das | |
herkommen nach 56 Jahren Diktatur? Es geht doch noch immer viel um | |
seelische Gewaltwunden. | |
Die »Ostdeutschen« sind ja nun auch eine sehr heterogene Gesellschaft. Aber | |
wie kann das passieren, dass Leute, die eben nicht am runden Tisch von | |
einer Alternative zu beidem träumten, sondern explizit den Westen wollten, | |
jetzt den Westen hassen? | |
Zunächst mal: Es geht hier um ein Verhältnis von eins zu sieben. 71,8 | |
Millionen Westdeutsche und 12,6 Millionen Ostdeutsche. Ist schon komisch, | |
wenn es immer heißt: Die Ostdeutschen und die Westdeutschen. Darüber hinaus | |
hat es in 35 Jahren im Land ja einiges an Bewegung gegeben. Da Sie aber von | |
den runden Tischen sprechen: Das waren eben oft Leute, die einen besseren | |
Sozialismus wollten. Dieser unerlöste Rest hat sie irgendwann zur AfD oder | |
heute eben zum BSW getrieben. | |
Wirklich? | |
Es gibt nicht wenige Bürgerrechtler, die strange bei der AfD unterwegs | |
sind. Mir fällt da ein Fall ein: In den 60ern geboren, Fluchtgeschichte, | |
verhaftet, DDR-Knast, zweite Flucht, wieder verhaftet, vom Westen | |
freigekauft, dann Jura in München studiert, nach 1989 wollte er | |
Landesbeauftragter werden und die Aufarbeitung der SED-Diktatur und ging | |
damit total baden. Heute ist er Pressesprecher der AfD bei Leipzig und | |
kommt immer mit dickem BMW zu Veranstaltungen. Diese inneren Mauern spielen | |
in den Ost-Biografien eine eminente Rolle. | |
Soziologisch betrachtet steht also das Individualisierungskonzept der | |
westlichen Konsumgesellschaft gegen den Kollektivkörper, der über zwei | |
nahtlos ineinander übergehende Diktaturen bestehen bleibt. Die | |
Individualisierung hat im soziologischen Sinne nie stattgefunden und daraus | |
entsteht der Konflikt. Richtig? | |
Das ist der zentrale Konflikt. Und dann gibt es natürlich noch | |
Hauptstränge, etwa eine nicht therapeutisierte Gesellschaft. Freud und die | |
Tiefenpsychologie waren im Osten ab 1948 tabu. Dazu diese Verrats- und | |
Bespitzelgesellschaft über zwei Diktaturen hinweg. Zu DDR-Zeiten gab es die | |
Angst, zur Therapie zu gehen, weil die Stasi ja überall dabei war. Das | |
große Thema im Osten ist Vertrauen. | |
Inwiefern? | |
Die Sache mit dem Selbst, das Vertrauen in die Welt. Das war im Grunde | |
detoniert. »Vom Ich zum Wir« lautete der Verheißungsimperativ im Osten. Und | |
dann musste sich all das nach 1989 neu finden oder überhaupt erst | |
entstehen. Diese inneren Kollisionen haben wir nicht genug im Blick gehabt. | |
Das Trauma-Massiv in den Leuten. Hoch wie die Alpen. | |
Weder 1945 noch 1989 wären dann eine Zäsur? | |
Die Aufrufbaren sehen ihr Leben als einen Prozess, indem der Staat sie | |
fertigmachen will. Und mittlerweile ist das ja auch fein umerzählt: Auch | |
die Westdeutschen wollen uns fertigmachen. Der Volkskörper wurde nach 1945 | |
zum DDR-Opferkollektiv umgebaut, und zwar mit aller Härte. Wenn wir DDR | |
sagen, gucken wir in die bunten 70er-Jahre-Bilder. Aber auf die | |
Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus folgten bis 1955 über zehn Jahre | |
blanker Terror. Die Leute waren schier fassungslos vor Angst. Das hat die | |
Ost-Gesellschaft geprägt, auch transgenerationell. Und dieser Angstmotor | |
läuft immer noch. Er ist heute ein starker Polittrigger. | |
Ihre These ist, dass Ostdeutschland 1968, also die Konfrontation mit der | |
eigenen Vergangenheit, zweimal verpasst hat – erst 1968 und dann 1989. | |
Nein, meine These ist: Es gab im Osten ein '68, aber es war Prag '68, und | |
das war die große Desillusionierung. Leute, die an das System geglaubt | |
haben, wie Christa Wolf etwa, verabschiedeten sich nach dem Einmarsch der | |
Sowjets in die Tschechoslowakei im Inneren von der Sozialismus-Idee. 1968 | |
ist der Moment, in dem sich der Westen verändert und eine offenere | |
Gesellschaft wird. Im Osten wird es enger, rigider, dort wird der | |
Geheimdienst neu aufgestellt. Günter Grass hat bei der späteren DDR von | |
einer »kommoden Diktatur« gesprochen. Es war genau umgekehrt. Die | |
80er-Jahre in der DDR waren übelste Zersetzungsjahre. Eine moderne | |
Diktatur, die nach innen alles abschnürt und nach außen mit den bunten | |
Bildern rumwedelt. Ich habe viel Opferpolitik mitgemacht und kann von daher | |
sagen: Die Babyboomer-Generation hat es richtig abgekriegt. Die siegen nach | |
außen und gehen im Inneren kaputt. Gerade die Linke im Westen hat sich nie | |
dafür interessiert, wie diese Diktatur-Dimension in den Biografien und in | |
den Körpern aussieht. | |
Eine weitere Kernthese von Ihnen lautet, dass das ein gesteuerter | |
erinnerungspolitischer Revisionismus ist, also alte Seilschaften, die den | |
Ostler als Superopfer des Westens inszenieren. Richtig? | |
Ich sage es ein bisschen anders. Ich bin nicht auf der | |
Verschwörungstheorie-Ebene, sondern halte viel davon, das Gesellschaftsloch | |
noch mal anzuschauen, das 56 Jahre Diktatur hinterlassen haben. Dieses | |
Wasteland. Aber ja, es gibt die Tätermilieus, die die Zeit nach 1989 gut | |
für sich nutzen konnten, genauso wie nach 1945 im Westen. Und was wir | |
öffentlich auch kaum erzählen: Dass es hier vor allem um einen | |
innerostdeutschen Streit geht. Wem gehört die Geschichte, wie ist sie | |
gelaufen, wie ist sie erzählbar? Da ist der Westen doch völlig außen vor. | |
Die neue Opferinszenierung eines Teils der Ostdeutschen dient dazu, die | |
wahren Opfer vergessen zu machen? | |
Es gibt laut UOKG, der Union der Opferverbände, mehr als drei Millionen | |
anerkannte DDR-Unrechtsopfer. Wo sind die? Wieso müssen sie derart | |
verleugnet werden? | |
Ist es ein nahtloser Übergang von den Opfern des Faschismus zu den Opfern | |
des Westens? | |
Es ist ein elendes Opfer-Kuddelmuddel. Wenn man sich einen reinen | |
DDR-Opferstaat organisiert, ist doch klar, dass die Ostdeutschen heute | |
sagen: Was Opfer? Das sind wir doch. Nach 1989 wurde viel vom Soli, den | |
Renten, dem nicht vorhandenen Erbe geredet, aber kaum vom immateriellen | |
Erbe. In den Debatten spielt die Systemfrage keine Rolle. Heute darfst du | |
von Unrechtsstaat und Diktatur nicht mehr sprechen, sonst wirst du in den | |
Veranstaltungen angeschrien. | |
Sie kennen das? | |
Nicht nur ich. | |
Lassen Sie uns nochmal klären, wie es sich ausgewirkt hat, dass die 68er | |
die Tätergeschichte im Westen in die Mitte der Gesellschaft gebracht haben, | |
und sie im Osten zweimal beschwiegen wurde. | |
Im Westen gab es mit 1968 die Gegenidentität der Jungen, also die | |
Identifizierung mit den jüdischen Opfern. Im Osten ist es durch die lange | |
Einschlussgeschichte und den strammen transgenererationalen Faden zur | |
Überidentifikation mit den Großeltern und Eltern gekommen. Die Verweigerung | |
des Umgangs mit Geschichte lässt politisch und biografisch zwar | |
Kontinuitäten entstehen und den manifesten Opfermythos im Osten | |
aufrechterhalten, verhindert allerdings auch den Bruch mit der | |
Doppeldiktatur. Und nun sieht man immer deutlicher die Generationsbänder: | |
15,6 Prozent in der Alterskohorte 15 bis 30 Jahre wollen im Osten ein | |
autoritäres Regime. Im Westen sind es 2,2 Prozent. Das ist alarmierend. In | |
dem neuen Buch sage ich, dass es eine Invasion von innen gibt. Es ist nicht | |
der Westen, der den Osten übertölpelt. Der Osten schafft es nicht, sich aus | |
seinem Diktaturbann zu entlassen. | |
Wir im Westen sind ja nun die Weltbesten in Erinnerungskultur und in der | |
Holocaust-Verantwortung. Warum passen die realen Diktaturopfer der DDR | |
nicht in unser Denken? | |
Vielleicht, weil zwei Diktaturen eine zu viel sind. Der Westen | |
signalisierte mit 1989: Wir haben unsere Arbeit gemacht, die Erzählung ist | |
gefunden, wir wissen, wie‘s geht. 1989 wäre der Moment gewesen, eine | |
gesamtdeutsche Erinnerungslandschaft zu bauen, eine Doppelhelix des | |
deutschen Gedächtnisses. Dafür war der Westen mit seiner wackligen | |
Erinnerungsarchitektur nicht stabil genug. | |
Das Ende der DDR ist für den Westen Pipifax? | |
Die DDR war erklärtermaßen nur eine Fußnote der Geschichte. Der Westen hat | |
nicht hingeschaut und sich den Schmerz des Ostens fremdhalten können. | |
Bestimmte Teile dessen, was Sie beschreiben, gelten aber auch für den | |
Westen. Diese berühmten 20 Prozent autoritär Strukturierte, die haben jetzt | |
auch im Westen eine Party. | |
Je mehr Zeit vergeht, desto weniger Täter gibt es in der Gesellschaft. Von | |
der Projektion her, nicht von der Realität. Diese Derealisierung von | |
Vergangenheit ist eine Synapse zwischen Ost und West. Und bei beiden gibt | |
es eine Deckerzählung: Der Westen ist trainiert darauf, in seine | |
Schuldschuhe zu schlüpfen. Der Osten wehrt ab. In dieser Spiegelszene lässt | |
sich politische Verantwortung außenvorhalten. | |
In einer größeren historischen Perspektive würde man sagen, das wächst sich | |
alles aus. | |
So ist 35 Jahre lang argumentiert worden. Die Bilanz heute: Die Kohle | |
allein hat es nicht gebracht. Es braucht mehr, anderes. Die Landschaften im | |
Osten blühen, aber die Antidemokraten sind dabei, das deutsche | |
Glücksprojekt zu beenden. | |
Nörgeln tun Wessis ja auch. | |
Aber man hat im Osten alles doppelt. Er hat zwei | |
Vergemeinschaftungsversuche auszuatmen und muss durch ein doppeltes | |
Schweigen. Ich komme gerade von einer Rundfunksendung mit einem | |
Ost-Prominenten. Und wenn man dann sagt, der Osten hat im roten | |
Antifaschismus-Mythos seinen Holocaust nicht aufgearbeitet, dann explodiert | |
der Laden. Es braucht nur das Wort Auschwitz, dann drehen alle durch. | |
Eiserne Abwehr der Negatividentität, kein Kontinuitätenbruch. Dann heißt | |
es: Aber wir haben im Osten schon 1958 einen Film über Auschwitz gehabt. | |
Nur, was erzählt das? Wir haben im Osten den Holocaust als Gesellschaft | |
nicht bearbeitet, wir haben ihn in den Eisschrank gelegt. | |
Was passiert denn jetzt bei und nach den Wahlen in Brandenburg, Sachsen und | |
Thüringen, Frau Geipel? | |
Der Trend ist eindeutig. Bei der Europawahl hat die AfD fünf Prozent | |
gegenüber der letzten zugelegt. Das BSW liegt in Umfragen mitunter bei 20 | |
Prozent. Legen wir rechten und linken Populismus zusammen, sind wir bei | |
mehr als 50 Prozent, die zumindest keine demokratische Mitte wählen. | |
Wenn die Wahlverwandtschaft zwischen BSW und AfD in einem völkischen | |
Wir-Konzept liegt, dann wäre das nach Ihrer Theorie genau die | |
Traditionslinie. | |
Das meine ich damit, dass drei politische Verfasstheiten ein Kontinuum | |
geworden sind. Das ist in meinen Augen nur mit dem Langzeitcharakter des | |
Restriktiven möglich, in einer – ich sage es jetzt nochmal – | |
Doppeldiktatur. | |
Warum darf man eigentlich in gewissen Kreisen nicht doppelte Diktatur | |
sagen? | |
Es ist die Angst vor der Gleichsetzung. Es geht aber nicht um die | |
Gleichsetzung, es geht um die Verzahnung, Verschweißung, das innere | |
Verbackensein. Das Völkisch-Nationale ist ein geistiges Kontinuum. | |
Was wird aus der Beschwörung der sogenannten »Brandmauer«, also das | |
Raushalten von AfD-Politikern aus Regierungsverantwortung? | |
Es gibt keine Brandmauern. Das sind Scheindebatten, die die AfD nur | |
stärken. Wenn sie in Städte wie Plauen oder Pirna gehen, dann lachen die | |
darüber. Pirna hat einen AfD-Bürgermeister. Der hat die Stadt hübsch | |
gemacht, sagt man auf dem Marktplatz. | |
Parteilos und nominiert von der AfD. | |
Man kann politisch praktisch im Kommunalen nichts mehr machen ohne AfD. Die | |
Frage ist, was man damit macht. | |
Was? | |
Mit 2015 ist im Osten ja einiges in Sachen Bürgersinn passiert. Man kann | |
jetzt eigentlich nur sagen: Okay, das braucht jetzt einen langen Atem, wir | |
müssen beharrlich bleiben und den demokratischen Osten – so gut es geht – | |
stützen. Steffen Mau kommt jetzt mit den Bürgerräten. | |
Die Grundthese des Soziologen Mau ist: Es gibt zwei unterschiedliche | |
kulturelle Identitäten, West und Ost, und das muss man jetzt einfach mal | |
akzeptieren. | |
Das Konzept nimmt sicher die scharfen Töne raus, bringt uns politisch aber | |
keinen Schritt weiter. Da können wir auch anfangen, von Ostelbien zu reden. | |
Diktatur in ihrer Dimension gibt es bei Mau nicht. Und ob Bürgerräte nun | |
das Zünglein an der Waage sind, da habe ich meine Zweifel. Warum nicht das | |
an Demokratie stärken, was doch da ist? | |
Naja, man versteht durch Mau, dass die Vorstellung irreal ist, alle müssten | |
gefälligst Westler werden. | |
Mussten wir das? Ost und West sind verschieden, okay. Und nun? Ist das | |
hilfreich bei dieser politischen Entwicklung? | |
Was passiert, wenn das destruktive Moment regierungsamtlich wird? Und die | |
Hypothese wäre: Da steckt eine Dynamik drin, die das Destruktive immer | |
anschlussfähiger macht. | |
Eben. Also demokratische Strukturen absichern. Stichwort | |
Bundesverfassungsgericht. | |
Und sonst? | |
Schule, Kultur. Wir versuchen die ganze Zeit zu verhindern, dass der | |
Elefant seinen Auftritt hat. Dabei hat er ihn längst. Eben erst in Sachsen. | |
Ein Theatermann macht ein Sophie-Scholl-Stück und hat hinten Hitler, Xi | |
Jinping und Putin an der Wand. Abiturienten denunzieren das Theaterprojekt | |
bei der AfD-Kulturtante wegen Linksextremismus. Wenn die AfD verantwortlich | |
ist für Kultur und für Bildung und in den Behörden sitzt, wird das zum | |
Alltag. | |
Wir bei taz FUTURZWEI würden gern Lösungen finden. | |
Ich auch. Aber erstens bis zehntens und das Problem ist gelöst, wird nicht | |
funktionieren. Wie reden, wenn der andere nicht reden will? Vielleicht die | |
Not lesen lernen und das ins Politische übersetzen? ■ | |
Das Gespräch führten Harald Welzer und Peter Unfried. Harald Welzer ist | |
Herausgeber [1][unseres Magazins taz FUTURZWEI], Peter Unfried ist | |
Chefredakteur von taz FUTURZWEI. | |
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4 Sep 2024 | |
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