# taz.de -- Christa Pfafferott Zwischen Menschen: In einem zerrissenen Bundesla… | |
Mit nur einem Prozent Akku bin ich in Gera angekommen. Im Zug hat mein | |
Handy nicht geladen. Ich versuche, mir den Weg auf der Karte im Handy | |
einzuprägen. Um die Kurve – geradeaus – beim Kaufland links – beim | |
Kreisverkehr schräg runter und links. Der Bildschirm wird dunkler, dann | |
schwarz. Ich bin off. | |
Ich habe in Gera eine Vorstellung meines Films am nächsten Tag und weiß | |
gerade nur den Namen des Hotels. Ich gehe eine lange Straße hinunter, ziehe | |
meinen Koffer über Plattenweg aus DDR-Zeit. Vor mir bauen zwei Männer | |
Wahlplakate von einem Gitter ab. Die Partei darauf hat die | |
Fünf-Prozent-Hürde bei der Landtagswahl in Thüringen am vergangenen Sonntag | |
nicht geschafft. Wie fühlen sie sich jetzt wohl? Der eine Mann geht | |
schwerfällig in die Hocke, um die Riemen am Plakat zu lösen. Politik ist | |
Kleinstarbeit. | |
Vor mir läuft ein etwa fünfzigjähriges Paar. Einmal grüßt es zu einem | |
Pick-up an einer Ampel, dann hinauf zu einer älteren Dame auf einem Balkon. | |
Sie recken die Arme zu Siegesfäusten zum Himmel. Machen sie das wegen der | |
Wahlergebnisse? Das Paar wirkt an diesem Ort zu Hause. Ich fühle mich hier | |
gerade verloren. Dann kommt Kaufland, bislang bin ich ja richtig, ich biege | |
links ab. | |
„Pass auf dich auf in Thüringen“, hat eine Bekannte im Spaß gesagt, bevor | |
ich losfuhr, kurz nach den Wahlen, bei der die hier vom Verfassungsschutz | |
als rechtsextrem eingestufte AfD 32,8 Prozent erhielt. Der Satz gab mir | |
einen Stich. Ich bin Thüringen verbunden. Meine Verwandten väterlicherseits | |
stammen von hier. Ich kenne hier viele Menschen. Thüringen ist eine Region, | |
die auch etwas Magisches hat, mit grünen Hügeln, weiten Feldern, viel Wald. | |
Am Tag zuvor in Eisenach, als ich dort auch für eine Filmvorführung ankam, | |
hörte ich die Toccata in d-Moll von Bach, der hier geboren war, auf meinen | |
Kopfhörern. Ich stand vor dem Martin-Luther-Denkmal, dem großen Reformator | |
von hier. Ich dachte, welche Größen die Region hervorgebracht hat, wie viel | |
Kultur. Der Blick auf Thüringen ist nun im Rest des Landes vor allem durch | |
die rechten Wahlergebnisse geprägt. Doch das wird der Region in seiner | |
gesamten Vielschichtigkeit nicht gerecht. | |
Als ich den Kreisverkehr erreiche, weiß ich nicht mehr weiter. War es diese | |
oder die andere Straße runter? Ich sehe ein vollgestopftes Auto, in dem | |
eine Familie sitzt, die Fahrertür weit offen. Vor dem Steuer sitzt eine | |
Frau, die eine junge Oma sein könnte, daneben vielleicht ihr Schwiegersohn, | |
hinten eine Mutter mit Kind. Alle haben eine Eiswaffel in der Hand. Ich | |
frage, ob sie in ihrem Handy nach dem Weg zu dem Hotel schauen könnten. Die | |
Frau vor dem Steuer nickt stumm: Sie knabbert an ihrer Eiswaffel, während | |
sie auf dem Handy herumwischt. Zeit vergeht ohne jede Reaktion. Keiner | |
beachtet mich. Für einen Moment wirkt die Situation irreal. Hat mich die | |
Frau vergessen? Was schaut sie so lange auf ihr Handy? | |
Während die Familie da so sitzt, spüre ich plötzlich Heimweh bei der | |
Vorstellung, nun in ein fremdes Hotel zu gehen. Schließlich scheint auch | |
die Tochter irritiert zu sein, dass die Mutter nichts sagt: „Siehst du | |
etwas?“, fragt sie. Die Frau isst den letzten Happen Eis: „Ja. Es sind nur | |
230 Meter.“ Ich erhasche einen Blick auf den Bildschirm mit der Route und | |
bedanke mich, die Familie verabschiedet sich knapp. | |
Im Hotel begrüßt mich eine gutgelaunte Besitzerin mit bayerischem Dialekt. | |
Am nächsten Morgen erwartet mich beim Frühstück eine Überraschung. Am schön | |
hergerichteten Büffet gibt es auch chinesische Gerichte: Sommerrollen, | |
liebevoll zubereitete Dumplings. „Wir haben eine chinesische Köchin“, | |
erklärt mir eine Mitarbeiterin. Als ich den Frühstücksraum verlasse, | |
flimmert auf dem Fernseher in der Lobby die Nachricht: „Fachkräftemangel in | |
Ostdeutschland. Menschen mit Migrationshintergrund schreckt Rassismus ab.“ | |
Ich mache mich auf zur Filmdiskussion. In einem zerrissenen Bundesland, das | |
mir am Herzen liegt. | |
6 Sep 2024 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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