# taz.de -- taz🐾thema: Knapp über der Gürtellinie | |
> Ausstellungen von Miriam Cahn, Alison Knowles und Carol Rama brechen die | |
> lange Dominanz der Männer im Kunstbetrieb auf | |
Bild: Carol Ramas „Lo specchio di Huguette“ (Huguettes Spiegel), 1983, Misc… | |
Von Jana Janika Bach | |
Der „brat summer“ („Gören-Sommer“), in dem ein Video viral ging, das K… | |
Harris beim Kauf cooler Schallplatten zeigt, liegt in seinen letzten Zügen. | |
Seither scheint die Welt wieder ein bisschen in Ordnung – selbstbewusste | |
Frauen, die wie die US-Vizepräsidentin in der Öffentlichkeit tanzen oder | |
lauthals lachen, gelten als angesagt, Männer wie Trump, die sie dafür | |
verspotteten, als „weird“. | |
Ob die Meme-Begeisterung für Harris anhalten wird, bleibt abzuwarten. Der | |
Kunstherbst jedenfalls, programmatisch bunt, hat das Zeug zu | |
enthusiasmieren. In Weil am Rhein beleuchtet das Vitra Design Museum mit | |
„Nike. Form Follows Motion“ die popkulturelle Bedeutung der Sportmarke. Im | |
Schweizer Kunstmuseum Thun lässt sich in „Textile Universen“ von Gunta | |
Stölzl und Johannes Itten eintauchen, während in der Hauptstadt zur Berlin | |
Art Week sicher wieder der Teufel los sein wird – allein 70 Ausstellungen | |
eröffnen in der Festivalwoche. Vor allem aber scheint vieles auffällig | |
anschlussfähig zu eingangs Erwähntem. | |
Die Beine gespreizt, die Zähne blitzend, unverhohlen schaut die Frau | |
zurück, eine andere schlägt einem Mann mit erigiertem Penis ins Gesicht. In | |
der Ausstellung „Lachen müssen“ von 2018 provozierte Miriam Cahn mit | |
explizit dargestellter Nacktheit, Gewalt und Sexualität. Treffsicher zielt | |
die streitbare Schweizer Künstlerin, eine exzessive Zeitungsleserin, mit | |
ihrer zorngetriebenen Kunst, die in ihrer dezidiert feministischen Haltung | |
wurzelt, knapp über die Gürtellinie. Vermehrt wird sie jedoch | |
missverstanden. Wie 2023, als ihr im Pariser Palais de Tokyo ausgestelltes | |
Gemälde „Fuck Abstraction!“ eine Debatte um die Grenzen der Kunstfreiheit | |
in Frankreich entfachte. Rechtspopulisten aus dem Dunstkreis um Marine Le | |
Pen hatten unermüdlich gegen das Ölbild gehetzt, das drei Figuren und eine | |
erzwungene Fellatio abbildet. Entstanden war es nach den verübten | |
Gräueltaten in Butscha. Eine Klage wegen „Verherrlichung von | |
Kinderpornografie“ wurde vom Pariser Verwaltungsgericht zurückgewiesen. | |
In der Kunstwelt indes wird die sich in ihrer Kompromisslosigkeit treu | |
gebliebene Cahn mit Preisen bedacht. Das war nicht immer so. Jüngst sagte | |
sie ihre Teilnahme an der Verleihung des Goslarer Kaiserrings ab. Nach der | |
Preisvergabe – 2024 ohne Künstlerin – wird traditionsgemäß im Mönchehaus | |
Museum die dazugehörige Ausstellung präsentiert. Dass sie die Schau | |
„Reading Dust“ im Amsterdamer Stedelijk für die bedeutendere halte, ließ | |
Cahn durchblicken, diese habe sie schließlich selbst installiert. | |
Von einer Empore in der rappelvollen Turbinenhalle der Tate Modern aus | |
schüttete Alison Knowles 2008 ihre Soße auf einen „Giant“-Salat, | |
angerichtet in einem von Helfern gehaltenen Sprungtuch. Im Anschluss wurde | |
er in der Kunstkathedrale verteilt und verspeist – ein Mega-Happening in | |
bester ephemerer Fluxus-Manier. | |
1962 schnippelte die US-Amerikanerin, einzige weibliche Mitbegründerin der | |
Fluxus-Bewegung, erstmals Gemüse öffentlich, seither hat sie ihre wohl | |
berühmteste Performance „Make a Salad“ dutzende Male aufgeführt. Zum | |
Repertoire von Knowles gehören zudem Publikationen und Kollaborationen, wie | |
das „begehbare“ Buch „Big Book“ oder die mit dem Komponisten John Cage | |
erstellte Sammlung „Notations“, in der sich Faksimiles, Partituren und die | |
Lyrics zum Beatle-Song „The World“ finden. Ausgerechnet in Wiesbaden, wo | |
Knowles 29-jährig in den Sechzigern mit Dick Higgins, Nam June Paik, George | |
Maciunas und anderen Kollegen die Einheimischen mit einer Konzertreihe | |
verstörte, kommentiert mit „die Irren sind los“, ehrt eine Retrospektive ab | |
September die Fluxus-Pionierin. | |
Sie gelangte erst spät zu Ruhm, ein harmlos klingender Satz, der es aber in | |
sich hat. Dass dieser auf die Autodidaktin Carol Rama, 1918 in Turin | |
geboren, zutrifft, ist ein weiterer Beleg für die viel zu lange währende | |
Dominanz der Männer im Kunstbetrieb. | |
85 Jahre war die „Grande Dame der italienischen Avantgarde“ alt, als sie | |
2003 einen Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk auf der Biennale von Venedig | |
erhielt, den sie beinahe im Müll entsorgt hätte. Mitte der 1930er begann | |
die 2015 verstorbene Künstlerin, heute bekannt für ihre frühen | |
aberwitzig-erotischen Aquarelle, zu malen – mit einer Fokussierung auf | |
Zungen, Phalli, Brustwarzen, Vaginen und Münder. Mit elegantem Strich | |
fasste sie etwa fragmentierte, verdrehte Frauenkörper. Abscheulich obszön | |
sei das, befand ein Publikum im faschistischen Italien. 1945 beschlagnahmte | |
die Polizei ihre Werke noch vor Eröffnung ihrer Ausstellung in der Galerie | |
Faber. In späteren Arbeiten, den Gummiassemblagen und -Collagen, wird | |
Biografisches sichtbar, die psychische Erkrankung und Klinikaufenthalte der | |
Mutter und der Vater, ein Entrepreneur, der nach dem Bankrott Suizid | |
beging. Mit einer Überblicksausstellung würdigt die Frankfurter Schirn | |
Carol Rama nun als Wegbereiterin feministischer Kunst. | |
Im Gegensatz dazu feiert das Wuppertaler Von der Heydt-Museum den | |
italienisch-argentinischen Avantgardekünstler Lucio Fontana als genialen | |
Visionär neuer Formen und Konzepte. Kaum einer, der seine monochromen | |
Leinwände, mit einem Messer durchstochen und geschlitzt, nicht kennt. Ein | |
befreiender Akt der Zerstörung, mehr Bedeutung wurde den „Concetti | |
spaziali“ vorläufig nicht beigemessen, nichtsdestotrotz machte sich Fontana | |
als Erneuerer der europäischen Nachkriegskunst über Italien hinaus einen | |
Namen. Seine Praxis Licht, Raum und Material zusammenzubringen, | |
unterfütterte er theoretisch mit seinem „Manifesto Blanco“, in dem er eine | |
völlig neue Kunstgattung – Malerei, Bildhauerei und Architektur in einem – | |
entwarf. | |
Im Alter von 69 Jahren, zwei Jahre, nachdem seine Malerei bei der Biennale | |
von Venedig mit dem Großen Preis prämiert worden war, starb Fontana in | |
Varese. Wenig Beachtung fand zeit seines Lebens, dass er auch ein Meister | |
der Keramikkunst war. Er fertigte perforierte Gefäße oder glasierte Teller | |
und Medusa-Büsten. Mit allein 100 Leihgaben wird in Wuppertal jetzt | |
Fontanas Facettenreichtum erlebbar sowie sein Einfluss auf folgende | |
Generationen, freundschaftlich verbunden war er der Zerogruppe um Yves | |
Klein, Otto Piene und Günther Uecker. | |
Ebenfalls in Wuppertal wird ein Schlaglicht auf Maurice de Vlaminck | |
geworfen, den exzentrischsten Vertreter des Fauvismus, während es in der | |
Fondation Beyeler nahe Basel die erste Henri-Matisse-Retrospektive im | |
deutschsprachigen Raum seit fast 20 Jahren zu bestaunen gibt – darunter | |
auch einige fauvistische Werke von Matisse. | |
24 Aug 2024 | |
## AUTOREN | |
Jana Janika Bach | |
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