| # taz.de -- Juni, Juli, August, September: Sonne, Salzwasser und soziale Klasse | |
| Bild: Die soziale Frage stellt sich auch am Strand | |
| Heutzutage klingt das absurd oder zumindest schwer vorstellbar, aber in | |
| meiner Jugend habe ich ernsthaft geglaubt, Leute wie wir könnten das Meer | |
| nur im Fernsehen erleben. Dass dort nur reiche Leute hindürften: Ärzte, | |
| Anwälte, Fußballprofis, Menschen, die es geschafft hatten im Leben. | |
| Noch heute höre ich meinen Vater eher schicksalsergeben als verbittert | |
| sagen: „Wer sind wir denn, ans Meer zu fahren? Ein Bauarbeiter und eine | |
| Verkäuferin. Arme Schlucker!“ | |
| Damit bin ich sicher nicht allein: Ich kannte als Kind zumindest in unserem | |
| Viertel niemanden, der je ans Meer gefahren wäre. | |
| Sicher bekamen viele rumänische Kinder, die Söhne und Töchter von | |
| Proletariern, Ähnliches zu hören, wenn sie – in einem Augenblick der | |
| Träumerei oder des furchtlosen Überschwangs, kurz nach Anfang der Ferien, | |
| wenn der Sommer unendlich und voller Möglichkeiten schien – ihre Eltern | |
| fragten, ob sie nicht auch mal mit ihnen ans Meer fahren könnten; endlich, | |
| denn sonst war für sie ein Sommer wie der andere, den ganzen Tag lang | |
| spielen vor sozialistischen Plattenbauten, herumklettern auf den dicken | |
| Rohren, durch die im Winter der Wärmeträger strömte, um dann abends – | |
| voller Staub und Glaswolle und Rost – auf dem Teppich zwischen Elternbeinen | |
| zu lümmeln, während im Hintergrund ewig der Fernseher lief. | |
| Im Juni aß man Kirschen, verfolgte die Berichte über Badeurlauber, die | |
| verbrannt von der Sonne ins Krankenhaus mussten, und schloss daraus, dass | |
| die Betreffenden dort sowieso nichts verloren gehabt hatten, dass die Sonne | |
| sie aufgespürt und dafür bestraft hatte, dass sie sich als etwas anderes | |
| ausgaben als das, was sie in Wahrheit waren: arme Schlucker. | |
| Im Juli knackte man Aprikosenkerne und entrüstete sich einstimmig mit den | |
| großen Brüdern, wenn man hörte, was am Strand ein Eis kostet – und wenn man | |
| sah, wie fix und fertig die am Meer Gefilmten wirkten, lang hingestreckt | |
| auf Handtüchern und unter Sonnenschirmen schwitzend wie Wächter auf einem | |
| Melonenacker, es schauderte einen bei der Vorstellung, wie viel man | |
| schuften musste, um sich dort auch nur eine winzige Kugel zu leisten. (Kein | |
| Wunder, dass diese Leute gar nicht mal unbedingt glücklicher wirkten als | |
| die zu Hause gebliebenen Faulenzer.) | |
| Im August, das Gesicht halb in Wassermelone vergraben, wurde man ein wenig | |
| rot neben seiner Schwester, wenn man im Fernsehen die Frauen sah, die | |
| halbnackt, ja manchmal sogar oben ohne, im Sonnenaufgang am Strand | |
| herumhopsten, als hätte das Meer sie mit einem bösen Zauber verhext. | |
| Dann, im September, kamen sie wieder zur Besinnung, und Jahr für Jahr | |
| wurden dieselben Rentner an demselben verlassenen Strand interviewt, im | |
| Sonnenuntergang, bei pfeifendem Wind; alte Leute, die das ganze Jahr lang | |
| darauf sparten, sich die entzündeten Zehen in den schmutzigen, von Quallen | |
| und Algen verseuchten Wellen zu kühlen, doch vor allem, um sich daran zu | |
| erinnern, dass sie auch mal jung gewesen waren. Manche waren Ärzte gewesen, | |
| andere Anwälte – Menschen, die es im Leben geschafft hatten eben. | |
| Ja, weil in den wilden Neunzigerjahren – für mich eine Zeit voll trister | |
| Erinnerungen –, nun einmal alles eine Frage des Status war, war auch das | |
| Meer eine Frage des Status, so hatte ich es zumindest verstanden, so war es | |
| von Vater zu Sohn übermittelt worden, weshalb ich es bis ins Alter von | |
| neunzehn Jahren für bare Münze nahm. Erst dann, mit 19, an dem Tag, als ich | |
| meinen ersten Lohn kassierte, fasste ich den Mut, meinem Vater zu sagen, | |
| ich sei bereit, die 400 Kilometer Straße anzupacken, die zwischen unserer | |
| Kleinstadt und dem Schwarzen Meer lagen. | |
| Trotz seines Einspruchs – offiziell weil ich nicht schwimmen konnte, | |
| inoffiziell weil keiner aus unserer Sippe so etwas je getan hatte – brach | |
| ich also auf. Es war eine Initiationsreise, und die ließ sich nicht mehr | |
| aufschieben. Ich musste um jeden Preis ans Meer, das war mir so klar wie | |
| nie zuvor – allerdings nicht unbedingt, wie man meinen könnte, um es | |
| endlich zu sehen, und auch nicht um überteuertes Eis zu schlecken oder bei | |
| Sonnenaufgang wie verhext am Strand zu tanzen, sondern vor allem, um mich | |
| zu vergewissern, dass auch ich es schaffen würde im Leben, dass ich einen | |
| Studienplatz in Medizin bekäme oder in Jura. Dass ich kein armer Schlucker | |
| bleiben würde. | |
| Wenn ich heute zusehe, wie meine Tochter im Sand tollt und danach ohne | |
| jeden Hauch von Verlegenheit mit schmutzigen Füßen auf ihre Strandliege | |
| steigt, wie sie durch ihre Sonnenbrille mit den kätzchenförmigen Gläsern | |
| aufs Meer hinausschaut, ohne dabei auch nur ein einziges Mal daran zu | |
| denken, dass mindestens die Hälfte der Kinder in ihrem eigenen Land dieses | |
| Meer niemals sehen werden, obwohl es vielleicht nur einen Steinwurf von | |
| ihrem Zuhause liegt, überkommt mich dumpfe, konfuse Traurigkeit, und ich | |
| schwanke den ganzen restlichen Tag hin und her zwischen elender Schwermut | |
| und der rohen, heftigen Freude – die ich verbergen muss, für mich behalten, | |
| weil sie so eigennützig ist –, dass ich es geschafft habe. Dass das Meer | |
| für sie, für meine Tochter, das Natürlichste von der Welt ist und bleiben | |
| wird. Dass sie nie im Leben Strandurlaub an Pfützen spielen muss. | |
| Aus dem Rumänischen übersetzt von Jan Schönherr. | |
| 31 Aug 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Bogdan Coșa | |
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| Meer | |
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