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> Jeder vierte Grundschüler in Deutschland hat Schwierigkeiten beim Lesen | |
> und Verstehen von Texten. Die Forschung weiß eigentlich, wie das Problem | |
> zu lösen wäre – doch an der Umsetzung hapert es noch | |
Bild: Schüler:innen der Klasse 4 b der Düsseldorfer Paulusschule während d… | |
Von Birk Grüling | |
Helen Herrmannsdörfer hat eine Mission: Die Grundschullehrerin aus dem | |
bayerischen Landkreis Landsberg will Begeisterung für das Lesen wecken. | |
Nicht nur in ihrer Klasse oder an ihrer Schule, sondern am liebsten in ganz | |
Bayern, vielleicht sogar über die Landesgrenzen hinaus. Dafür investiert | |
sie viel Arbeit und noch mehr Freizeit. Sie entwickelt Lesematerialien für | |
das Kollegium, baut die Schulbücherei auf, organisiert Lesetage mit | |
Kinderbuchautor:innen, kümmert sich um Leseförderung in der Gemeinde, | |
besucht Fachtage und hat einen Bücherblog namens „[1][Das Kunterbunte | |
Sofa]“. | |
Gerade hat sie Lehrerfortbildungen zur Leseförderung entwickelt, gefördert | |
von den örtlichen Schulämtern. „Nebenbei“ steht sie noch im Klassenzimmer. | |
Ausgleichsstunden für ihr Engagement bekommt sie bisher nicht. In Zeiten | |
des Lehrermangels ist jede Stunde wertvoll. „Das geht nicht ewig so weiter, | |
sagt mein Mann immer. Aber ich kann nicht einfach aufhören. Leseförderung | |
ist so wichtig für die Zukunft der Kinder“, sagt die Pädagogin am Telefon. | |
Wer nicht richtig lesen könne, habe weniger Chancen, an der Gesellschaft | |
teilzuhaben – beim Einkaufen, beim Wählen oder im Beruf. Lesen lernen | |
gehöre deshalb ganz oben auf die bildungspolitische Agenda, findet sie. | |
Wie zutreffend diese Einschätzung ist, zeigen unter anderem die Ergebnisse | |
der [2][jüngsten IGLU-Studie]. Am Ende der Grundschulzeit sollten Kinder in | |
der Lage sein, mindestens 100 Wörter pro Minute zu lesen und das Gelesene | |
zu verstehen und wiederzugeben. Jeder vierte Viertklässler in Deutschland | |
schafft das nicht und hat damit große Nachteile in seiner weiteren | |
Schullaufbahn. „Ich glaube schon, dass die Politik das Problem | |
grundsätzlich erkannt hat. Es fehlt aber noch an der nötigen Konsequenz bei | |
der Bekämpfung“, sagt Herrmannsdörfer. | |
In Bayern gibt es seit dem Schuljahr 2023/24 ein landesweites | |
Leseförderprogramm namens FiLBY. Es umfasst ein Screening der | |
Lesekompetenz, Lesen in Tandems aus schwachen und starken Schülern sowie | |
das Erlernen von speziellen Lesemethoden zu einem besseren Textverständnis. | |
Außerdem gibt es Fortbildungen für alle Lehrkräfte. Das Urteil der | |
Praktikerin: gut gedacht, aber doch sehr kopflastig und wenig praxisnah. | |
Gerade leseschwache Schüler:innen würden mit den Materialien kaum | |
erreicht. Deshalb hat sie das Programm mit vielen eigenen Ideen, abgestimmt | |
auf die Heterogenität der Schülerschaft, ergänzt – von Lernspielen im | |
gemeinsamen (Vor-)Lesen über vereinfachte Texte bis hin zu Lesetipps für | |
die Eltern und Kinder. | |
Ganz neu sind die mäßigen Leseleistungen nicht. „Schon 2001 lag die Zahl | |
der Viertklässler, die nicht ausreichend gut lesen konnten, bei knapp 20 | |
Prozent“, sagt Steffen Gailberger, Leseforscher an der Universität Kiel. | |
Der Anstieg um 5 Prozent sei für die Lesedidaktik nicht überraschend. | |
Schließlich sind die Gründe gut erforscht. Die schulische Nettolesezeit ist | |
im internationalen Vergleich eher gering – auch nach der Stärkung des | |
Faches Deutsch an Grundschulen, auf die sich die Kultusministerkonferenz | |
(KMK) im März geeinigt hat. | |
Dazu kommt, dass die Schülerschaft in den Grundschulen durch Flucht und | |
Kriege noch heterogener geworden ist. Auch digitale Medien dürften eine | |
Rolle spielen. Sie sind auf Schnelligkeit und kurze Inhalte ausgelegt und | |
führen zu einer veränderten Aufmerksamkeitsspanne. Nicht zuletzt sind die | |
Folgen der Pandemie spürbar. Vor allem die Lesekompetenz von Kindern aus | |
sozial benachteiligten Familien hat sich durch Abschottung und | |
Fernunterricht verschlechtert. | |
Ausschlaggebend für die anhaltenden Probleme beim Lesen sind aus Sicht von | |
Gailberger aber vor allem didaktische Defizite: „Wir haben uns zu lange auf | |
die Lesemotivation verlassen.“ Der „Irrglaube“: Wenn man die Kinder nur o… | |
genug mit Büchern in Kontakt bringe, komme das flüssige Lesen von allein. | |
Bücherkisten wurden in die Schulen geschickt, Buchgeschenke verteilt und | |
Förderprogramme für Schullesungen von Kinderbuchautor:innen | |
geschaffen. All diese Maßnahmen seien sinnvoll und ein Gewinn für die | |
Kinder, so Gailberger. Aber sie könnten erst der zweite Schritt sein. | |
„Davor müssen wir die Leseflüssigkeit stärken.“ Nur wer gut lesen könne, | |
greife auch zum Buch. | |
Mit anderen Worten: Wer nicht gut lesen kann und die Texte nicht versteht, | |
kann auch nicht in die Fantasiewelten zwischen zwei Buchdeckeln eintauchen. | |
Deshalb hat sich der didaktische Ansatz geändert. Wie eine Sportart oder | |
ein Musikinstrument soll nun auch das Lesen trainiert werden – und zwar | |
nicht (nur) durch die Eltern oder ehrenamtliche Lesepaten, sondern | |
konsequent an jedem Schultag, in jedem Fach. Gailberger und seine | |
Kolleg:innen haben ein in der Fachwelt viel gelobtes Modell namens | |
Leseband entwickelt. | |
Eingeführt ist es bereits in Hamburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen, | |
Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Weitere | |
Bundesländer wie Berlin oder Hessen beratschlagen über eine Einführung. Das | |
Konzept des Lesebandes ist einfach: An jedem Schultag wird 20 Minuten lang | |
gelesen – nicht nur im Deutschunterricht, sondern als zusätzliches | |
Lesetraining in allen Fächern. Dabei werden bewährte Methoden wie | |
Lesetandems aus schwächeren und stärkeren Lesern oder das gemeinsame | |
Vorlesen von Texten kombiniert. | |
Der Leistungsstand der Kinder wird durch eine begleitende | |
Leistungsdiagnostik überprüft. Dazu erhalten alle Lehrkräfte entsprechende | |
Fortbildungen. Erste Ergebnisse aus der Evaluationsforschung sind | |
vielversprechend: Im Laufe der Grundschulzeit verbesserten sich die | |
Leistungen der Kinder nicht nur im Lesen, sondern ebenso auch in Mathematik | |
oder Rechtschreibung statistisch signifikant. Besonders groß war der Effekt | |
bei Kindern mit einer anderen Familiensprache. | |
Einziger Wermutstropfen: Selbst bei konsequenter Umsetzung von Konzepten | |
wie dem Leseband wird es wohl 10 bis 15 Jahre dauern, bis positive Effekte | |
auch in größeren Bildungsstudien sichtbar werden. Der Grund dafür ist, | |
dass der Aufwand und die Kosten für eine strukturierte und flächendeckende | |
Leseförderung immens sind. In Bayern hat das Kultusministerium gerade eine | |
Überarbeitung von FiLBY angekündigt, neue Materialien wurden entwickelt, | |
weitere Fortbildungen sollen angeboten werden. | |
Doch der bildungspolitische Wille ist nur der erste Schritt. Umgesetzt | |
werden muss die Leseförderung an den Schulen selbst, und auch das ist viel | |
Arbeit. „Wir müssen bei den Kolleg:innen Überzeugungsarbeit leisten, | |
brauchen Fortbildungen und gute, praktische Materialien. Das geht nicht mal | |
so nebenbei“, sagt Lehrerin Herrmannsdörfer. Für das Leseband zum Beispiel | |
werden 100 Minuten pro Woche vom Fachunterricht abgezogen, um das Lesen zu | |
fördern. Die Projektverantwortlichen müssen genau erklären, warum | |
Unterrichtszeit für die kontinuierliche und systematische Leseförderung | |
geopfert wird und natürlich auch, welche Aufgabe die Kolleg:innen dabei | |
übernehmen. | |
Auch bei der Auswahl geeigneter Lesematerialien brauchen die | |
Lehrer:innen Unterstützung. „Niemand kann von ihnen erwarten, dass sie | |
in ihrer Freizeit den Kinderbuchmarkt im Auge behalten. Umso wichtiger wäre | |
es, auch dafür Verantwortliche in der Schule zu benennen und sie | |
entsprechend mit Stunden zu entlasten“, fordert Herrmannsdörfer. Auch die | |
genaue Lesediagnose der eigenen Schülerschaft ist eine große Aufgabe. An | |
manchen Schulen sind mehr Viellesezeiten zum besseren Leseverstehen, an | |
anderen mehr Lautlesezeiten zur Steigerung der Leseflüssigkeit sinnvoll. | |
Die Konzepte müssen also genügend Spielraum für individuelle Anpassungen | |
lassen. Für das Leseband planen Gailberger und sein Team deshalb | |
vierjährige Erprobungsphasen an einzelnen Schulen. Erst nach und nach | |
sollen weitere Schulen einbezogen werden. In der Zwischenzeit bleiben die | |
Leselücken bei Kindern und Jugendlichen unverändert groß – mit den | |
bekannten Folgen wie schlechteren Bildungschancen und erschwerter Teilhabe | |
in der Gesellschaft. | |
In der Zwischenzeit muss sich die Bildungspolitik weiterhin darauf | |
verlassen, dass engagierte Grundschullehrkräfte alles versuchen, um | |
wenigstens noch ein paar Kinder und Jugendliche zum Lesen zu bringen. | |
7 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Birk Grüling | |
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