| # taz.de -- Die Wahrheit: Rute raus, der Spaß fängt an | |
| > Am Ufer ewiger Jugend. Eine voll ausgefahrene Geschichte über das alte | |
| > Problem der Penislänge. Mit Fischgeruch und wahren Mädchenträumen. | |
| Neulich, es war ein Sonntag, lag ich an meinem geliebten Aßmann-Kanal auf | |
| der Wiese. Mit geschlossenen Augen döste ich so durch den Tag, um mich | |
| herum nichts als das herrliche Zwitschern der Vögel und zweier junger | |
| Männer irgendwo neben mir. | |
| Sie fachsimpelten, so wie junge, noch unfertige Männer halt fachsimpeln, | |
| und selbstverständlich ging es um ihre Penisse. Anders gesagt, um ihre | |
| „Ruten“. Um die Länge ihrer Ruten. Um das Gewicht ihrer Ruten, sogar um die | |
| Biegsamkeit. Ruten, die sie sogleich auszupacken gedächten, um möglichst | |
| viele „blutjunge Brassen“ zu ködern. Okay, nicht sehr einfühlsam, nicht | |
| sehr auf konsensuelle Zärtlichkeit bedacht, dachte ich, aber okay, für mich | |
| war die Situation vergnüglich. „Jaa, redet nur weiter“, dachte ich. So | |
| machen Sonntage Spaß. | |
| Der eine Typ, der mit der kieksenden Stimmbruchstimme, sprach sogar von | |
| seiner extra langen „Teleskoprute“. Ganz schön selbstbewusst, die jungen | |
| Kerlchen heute, schmunzelte ich: Da ist aber jemand mit sich im Reinen! Das | |
| gefiel mir gut. Nicht so verunsichert, nicht so von Selbstzweifeln geplagt | |
| wie die Luschis zu meiner Zeit. Fünf Minuten später referierte der | |
| Stimmbruch-Boy immer noch von seiner großartigen „Teleskoprute“, die sich | |
| auf wenige Zentimeter zusammenschieben ließe, ehe er noch etwas von der | |
| Anzahl der „Schnurlaufringe“ berichtete. | |
| Da schlug ich die Augen auf. Und war sofort enttäuscht. Wenige Meter links | |
| von mir, am Ufer des Kanals, hockten die Jungs auf Campingstühlen und | |
| angelten. Sie angelten wirklich! Ich konnte es kaum glauben. Angelruten in | |
| den Händen, Schnüre im Wasser, saßen sie in moosgrünen Matschhosen da. | |
| Ich guckte, ob sie dabei wenigstens kifften oder ein paar zünftige | |
| Dosenbiere im Spiel waren – aber nichts. Was war mit ihnen los? Angeln | |
| kannte ich nur als trostloses Hobby dieses einen gemütskranken Vaters | |
| meiner Grundschulfreundin. Jeden Sonntagvormittag schlappte er in | |
| Gummistiefeln mit Eimer und Angel durch unser westfälisches Dorf Richtung | |
| Weser. Keiner wusste, warum er das tat. Vermutlich angelte er seinen | |
| Samstagabendrausch aus oder schwänzte den Gottesdienst. | |
| ## Trendsport der Jugend | |
| Aufgewühlt kramte ich mein Handy aus der Tasche und recherchierte: Angeln | |
| war allen Ernstes seit einigen Jahren ein Trendsport unter jungen Leuten. | |
| Es gab zahlreiche Tiktok-Videos, darunter viele von der Jungen Union. Es | |
| gab die Begriffe „Urbanes Angeln“ und „Streetfishing“. Es gab | |
| Jugend-Angelclubs, die aus allen Gräten … äh, Nähten platzten. Es gab | |
| jugendliche Online-Foren, und ob sich die Mitglieder dort „Dschingis Karp“ | |
| oder „Sharkira“ nannten, wollte ich lieber nicht wissen. | |
| Gerade sprachen die Jungs über „Drop-Shot-Angeln“ und die besten „Spots�… | |
| Coole Anglizismen und Angeln, das brachte ich im Kopf irgendwie nicht | |
| zusammen. Doch ehe sie noch ein geiles „Jugendwort des Jahres“ wie „Fishi… | |
| Luck“ oder „aqua culture clash“ kreieren konnten, sprachen sie bereits ü… | |
| die Prüfung zu ihrem nächsten „Fischerei-Schein“. Auch das noch! Nicht mal | |
| illegal lebten sie ihr krankes Hobby aus, nicht mal „Fischwilderei“ | |
| betrieben sie, sondern gingen schön brav zum Theorieunterricht, wie in der | |
| Fahrschule. Der Horror. | |
| Dann redeten die beiden traurigen Wichte über die Familie der | |
| „Barschartigen“, darunter den Zander. Gern hätte ich etwas gesagt. Zum | |
| Beispiel, dass für uns damals der einzige Zander, den wir kannten, der | |
| Frank war – na und, wir hatten trotzdem unsere lecker Fischstäbchen von | |
| Kaiser’s Tengelmann. | |
| Gern hätte ich sie gefragt, warum sie das taten. Jugendforscher würden | |
| irgendwas von „Entschleunigung“ und einem ersehnten, wichtigen Reststück | |
| „Real Life“ dozieren, von „Naturerfahrung“ und „Sich selber spüren�… | |
| ich vermute, es war einfach totale Perspektivlosigkeit. Oder Faulheit. | |
| Diese ganze „Generation Z“ ist doch körperlich zu schlaff für andere, | |
| richtige Sportarten wie Basketball oder Beer Pong. Ja, können die jungen | |
| Meeresfrüchtchen ihre Freizeit nicht sinnvoll gestalten: Mofa fahren, | |
| Graffiti sprühen, Weltschmerz zelebrieren oder Heavy Petting, wie ganz | |
| normale Halbstarke? | |
| Was auch ein Angel-Motiv sein könnte: Die pure Lust am Töten. Immer nur | |
| virtuell in den Ego-Shootern ist doch auch nichts – und wer kann diesen | |
| Drang nicht verstehen? Doch vermutlich würden diese Weichlinge ihre Fische | |
| am Ende noch vorsichtig vom Köder nehmen und wieder ins Wasser werfen, | |
| zurück ins Leben, denn auch von diesem Angeltrend namens „Catch and | |
| Release“ hatte ich gelesen. | |
| Mittlerweile prahlten die beiden verpickelten Hechte mit ihren hochwertigen | |
| „Lebend-Ködern“, als ginge es jetzt doch um ihre Geschlechtsteile, worum es | |
| im Subtext sicher auch ging. Irgendwann sagte der eine den hübschen Satz: | |
| „Die Moderlieschen haben ja auch gerade Schonzeit“, als spräche er von | |
| menstruierenden Mädchen, die man gerade nicht anrühren dürfe. | |
| Also, eines wusste ich. Das mit den Mädels konnten sich die Angel-Nerds | |
| abschminken! Niemals würden sie mit diesem Hobby im echten Leben ein paar | |
| lebenslustige Backfische oder Prachtschmerlen ködern. | |
| ## Badboys mit Vereinsbeitrag | |
| „Ah, da seid ihr ja schon“, nuschelte auf einmal eine phlegmatische Stimme | |
| hinter mir. Ich drehte mich um. Da standen zwei bleichgesichtige Mädchen in | |
| Spaghetti-Tops und schlammfarbenen Anglerhosen. | |
| „Bitte, bleibt nicht stehen“, dachte ich. Sucht euch andere Jungs! | |
| Autoscooter-Raser, Kiffer, Punker, meinetwegen auch richtige | |
| Angler-Underdogs, die Badboys der Szene, sexy Nonkonformisten mit | |
| Outcast-Image, die niemals den Angelvereinsbeitrag rechtzeitig überwiesen. | |
| „Mixt ihr eurer Wurmfutter eigentlich selber oder kauft ihr | |
| Fertig-Gemixtes?“, ging einer der Jungen jetzt flirtmäßig in die Vollen, | |
| und eines der Mädchen fragte zurück, ob irgendwer eigentlich eine | |
| „Madenbox“ dabei hätte. | |
| Ich sah den vieren noch eine Weile zu, ehe der Stimmbruch-Junge gellte: | |
| „Ich hab einen!“ Und richtig, an seiner Angel zappelte ein stattlicher | |
| Fisch. Oh, wie er zappelte! Der Junge nahm ihn vom Köder, aber hielt das | |
| zappelnde Wesen unschlüssig in der Hand. | |
| Da nahm ihm eines der Mädchen den Fisch aus der Hand und schlug ihn mit | |
| voller Wucht auf den Gehweg. Da zappelte der Fisch dann nicht mehr. Ein | |
| sachgerecht ausgeführter Genickbruch, alle Achtung, dachte ich und packte | |
| rasch meine Sachen zusammen, ehe sich das geheimnisvolle Haudrauf-Girl noch | |
| an mir vergriff. | |
| Ich ging nach Hause: erschrocken, aber auch ein bisschen hoffnungsfroh. | |
| Diese junge Generation würde noch einiges erreichen. Wer, ohne mit der | |
| Wimper zu zucken, eiskalt einen Barsch erschlägt, kann auch die | |
| Erderwärmung noch stoppen; dem gelingt vielleicht sogar die eine oder | |
| andere krachlederne soziale Revolution. | |
| 20 Jul 2024 | |
| ## AUTOREN | |
| Ella Carina Werner | |
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| Kolumne Die Wahrheit | |
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